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Der April 2009
Ideal: "Berlin"

Die Welt ist groß, die Welt ist weit, wer sie bereist, der weiß Bescheid. Ich bin vielleicht nicht Ihr Fachmann für Nairobi, aber ich kann Ihnen schonmal sagen, daß auch Karlsruhe, Bremen und Oberhausen ganz bezaubernde Innenstädte haben, wenn man so will. Reisen bildet, zur Arbeit gehen macht doof. Allein das Flanieren über Kopfsteinpflaster erweitert nicht nur den Fuß am späten Abend, sondern auch den Horizont im darauf folgenden Sommer.
Auf fremde Menschen könnte es allerdings unter Umständen eine Spur zu extrovertiert wirken, wenn der Tourist in einer quietschbunten Jogginghose durch wildfremde Fußgängerzonen torkelt und laut "Shalala" vor sich hingröhlt. Ich bekomme zwar anstandslos mein Käsebrötchen, aber mit meinen abgewetzten, weißen Turnschuhen, der affigen Wollmütze, dem Elvis-Patch auf der ärmellosen Jeans-Weste und dem Schnauzbart in der Fresse gehöre ich eigentlich nicht in die Bäckerei, sondern in ein Trinkhallen-Comic.
Hinzu kommt der Restalkohol. Ich kann oft gar nicht mehr sprechen. Also, fast nicht. Konsonanten vielleicht. Zum Glück gibt es Finger, mit denen man zeigen kann, beispielsweise auf Brötchen oder den eigenen Schritt, wenn man mal auf´s Klo muß.
Ich bin zwar nie der einzige in meinem fidelen Lieder-Sextett, der am Abend zuvor gesoffen hat, aber immer der einzige, der noch daran denkt, am Morgen danach genau die Stadt zu erobern, die sich gerade einem zu Füßen legt wie ein begossener Pudel. Anderen Kulturen, Sehenswürdigkeiten und Wurstbuden zu begegnen ist schließlich der Hauptgrund, überhaupt Konzerte in Niedersachsen oder Bayern zu geben. Und wenn ich dann rausgehe in den warmen Nieselregen, mache ich das konsequenterweise in meinen Arbeitsklamotten, denn es ist Teil meines Lebens, dafür bezahlt zu werden, gut auszusehen.
Obwohl ich den Bekloppten-Status aufgrund seiner Immunität sehr genieße, ist es aber auch mal ganz nett, sich einer fremden Stadt in zivil zu nähern. Ohne Musik, meine ich.
Denn es ist ein schönes Stück James Blunt, wenn niemand wegen einem die Straßenseite wechselt.
Und es erfüllt mich mit Pink Floyd, wenn sich der Punk wieder traut, einen anschnorren.
Und es bemickjaggert die Sinne, wenn das nächste Zucken der fremden Frau auch ein Lächeln sein könnte, statt einer Kotzattacke.
Kein Zweifel, es ist ein gutes Gefühl in richtigen Hosen, fast möchte man sagen: Sightseeing-Touren in vernünftiger Garderobe kommen echt besser.
Ende März zog es mich mal wieder für ein paar Tage nach Berlin und ich freute mir ein Loch in den Arsch. Berlin ist meine alte Liebe, die Christbaumkugel unter den vielen Städten, die einem sonst so zugemutet werden. Darüber hinaus ist Berlin der Erreger aller möglichen Glücksgefühle, dann teilt sich die Stadt in tausend Zentrifugen, die sich alle himmelwärts bewegen wie auf einem irren Trip, ein Cadillac-Walk auf Konfetti und Stardust. Und Lampen. Mit Pudding. Ja, ich bin mir sicher: Wenn Berlin ein Gebäck wäre, wäre Berlin ein Yes-Torty.
Und da fuhr ich hin, man mag es kaum glauben. Obwohl ich auch ein paar berufliche Dinge zu erledigen hatte, wollte ich es natürlich touristenmäßig so richtig krachen lassen. Das heißt: Zu Fuß durch möglichst viel Mauer, ein paar Gebäude betrachten und den Sensor ausfahren. Mal fühlen, was sich so tut zwischen Mensch und Haus. Als erfolgloser Schriftsteller ist man ja auch Sozialforscher, irgendwie. Und ich habe da durchaus meine Theorien. Ich weiß zwar noch nicht genau wie, aber ich bin mir zum Beispiel sicher, daß sich die Architektur, die einen umgibt, auch auf den Charakter der jeweiligen Bewohner niederschlägt. Sehen Sie, alte, gepflegte Jugendstil-Bauten werden vermutlich einen ausgeglichenen, in sich ruhenden Erdkunde-Lehrer gebären, Bungalows aus den 70er Jahren erschaffen oft ältere Frauen mit blondierten Haaren und Bianca-Jagger-Lippen, Hochhäuser Hip-Hop-Typen und Rechtsradikale. Relativ sicher sind Mietswohnungen in lockerer Bebauung, vielleicht noch mit ´nem Park davor. Das geht. Da braucht man keine Angst vor Hartz IV zu haben, es sei denn, man verliert seinen Job. Aber da kann ja das Haus nichts dafür.
Es ist auf jeden Fall interessant, seine Sinne dahingehend zu sensibilisieren, auch mal an ´nem Haus zu riechen, es zärtlich zu streicheln oder einfach nur mal in den Arm zu nehmen. Mal zur Besinnung kommen. Stille Zweisamkeit genießen. Auch mal ne Weile nichts sagen. Die Stimmung erfassen und wissen, wann ein Haus "nein" meint, obwohl "ja" an seiner Wand steht.
Ich hab inzwischen einen ganz guten Draht zu Häusern, versuche Ihnen beim sozialen Abstieg zu helfen, bin in meinem Film der Star und komm auch gut alleine klar, obwohl soviel Intimität auf offener Straße bei vielen Passanten natürlich auch Reaktionen erzeugt ("Äh, kann ich Ihnen helfen?").
Bevor Sie jetzt denken, ich sei bekloppt, kann ich Sie beruhigen: Ich beschränke meine Kontakte natürlich nur auf attraktive, vielleicht schon etwas verlebte Gebäude älteren Semesters, denn moderne Architektur macht mich fertig. Es gibt definitiv einen Zusammenhang zwischen der Ausstrahlung eines Hauses und schlechter Laune, vermutlich sogar zwischen silbrig glänzenden Stahlträgern in verspiegelten Glasfassaden und der Weltwirtschaftskrise. Drei Etagen, Flachdach, Steinterrasse rot verklinkert - wir züchten uns da eine Generation von Psychopathen heran, doch der einzige, der das checkt, nämlich ich, fuhr, wie er schon sagte, nach Berlin. Natürlich stehen auch dort häßliche Neubauten, ich bin ja nicht blind, aber das Gegengewicht ist vorhanden. Fachleute wie ich sprechen in diesen Fällen von der "architektonischen Opposition". Ich müßte mich schon sehr täuschen, aber nach meinem Dafürhalten müßte ganz Berlin ´ne psychopathenfreie Zone sein. Vermutlich gibt es dort nicht einmal unzufriedene Menschen, denn Berlin war mal was ganz Besonderes. Die DDR ging hier mitten durch den Boden!
Berlin! Erst Kurfürst Friedrich der Dritte, dann Nina Hagen und jetzt also ich.
Am Freitagmittag sollte ich ankommen, doch der Zug hatte einen Triebwerkschaden hinter Wolfsburg und stand mitten in der Pampa blöd auf´m Gleis rum. Das geht ja gut los dachte ich, um auch mal das Stilmittel der Ironie zu benutzen, aber eigentlich war das nicht der richtige Zeitpunkt für pointierte Spitzen, denn durch das selbstherrliche Nichtstun des bekackten Zuges kam ich zu spät, zu verschwitzt und zu uncool zum Geschäftsessen. Sicher, ich hätte für die fünf Kilometer auch ein Taxi benutzen können, aber so früh am Tag wollte ich nicht den Snob raushängen lassen. Im Restaurant Honigmond (schöner Name für ´ne Katze) aß ich mit den Damen dann drei Kohlrouladen und machte ein paar Späßchen, die aber im stilvollen Ambiente des Mittagsbuffets freudlos verpufften. Nach dem Nachtisch ("Croissant-Auflauf", unglaublich!) fuhr mich meine Sachbearbeiterin quer durch die Stadt, und zwar mit ihrem recht unbekümmerten, anarchistischen Fahrstil. Am Flughafen Tempelhof ließ sie mich raus. Glück gehabt. Mein erstes Reise-Highlight, schön Stein auf Stein, akkurat aufeinandergeschichtet wie sich´s gehört, recht angenehm im Auge. Ich ging direkt mal hin zu dem monströsen Klotz und sah auch gleich ein paar Japaner, die vielleicht zwei Minuten vor mir vor der verschlossenen Tür standen, aber da war absolut nichts zu machen. Zu ist zu, es hat sich ausgerosinenbombt, auf weitere Luftbrücken wird vorerst verzichtet, Merkel macht erstmal alleine weiter. Also auf zum Hotel. Mein Weg führte mich entlang des Volksparks Hasenheide. Den sollte ich auf Anraten meiner ortskundigen Geschäftspartnerin auf keinen Fall in der Dunkelheit betreten, aber so lange wollte ich sowieso nicht warten, denn inzwischen stand mir der Sinn nach einer schönen, kühlen Pulle Mineralwasser. Am Nachmittag erreichte ich Neukölln, was für die nächsten drei Tage mein Zuhause sein würde. Im Kosmos stieg der Lautstärkepegel. Hatte ich am Ende etwa auf das falsche Pferd gesetzt? Immerhin gilt Neukölln als "Problembezirk", was immer das auch beinhalten und ausschließen mochte. Nein, es war okay. Als Duisburger hatte ich natürlich keine Probleme mit Problembezirken, auch wenn ich in der Nacht zweimal durch Schüsse auf der Straße geweckt werden sollte. Doch noch war ich nicht im Bett. Noch war ich am Leben und das Leben hielt mir seine prallen Brüste in´s Gesicht, denn ich hatte inzwischen mein Wässerchen getrunken und war auch sonst bester Dinge. Im Hotel angekommen machte ich mich erstmal frisch. Dann warf ich einen Blick auf den Stadtplan. Und dann ging ich schnurstraks zur Oberbaumbrücke. Die hatte mir schon in meinem Polyglott-Reiseführer sehr gefallen, aber in Natura sah sie noch besser aus. Backstein, dazu noch mit dezentem Pißgeruch und wilhelminischem Geschwurbel - also, das kann schon was. Und ein Turm ist eckig und ein Turm ist rund, was sagt uns das? Ja, ich hatte meinen Schirm vergessen und inzwischen grollte es am Himmel. Ich beschloß, mir den Rest der Stadt für die nächsten Tage aufzuheben und machte mich auf den Rückweg, natürlich nicht, ohne meine künstlerische Freiheit zu nutzen und noch ein paar gekonnte Schlenker einzubauen. Mein erstes Schlenkerchen führte mich in eine begehbare Trinkhalle, denn irgendwie hatte mein Hals jetzt Bock auf Action. Ich kaufte mir einen kleinen Jägermeister und eine Flasche polnisches Pils, dann trat ich raus in die Nacht, die noch nicht herangebrochen war, beziehungsweise in den Regen, der inzwischen eingesetzt hatte. Vor dem "Wild at Heart" in Kreuzberg entlud bereits der Act des Abends den Transporter. Die Frantic Flintstones waren in der Stadt und trugen im Gegensatz zu mir Psychobilly-Frisuren. Da der Regen immer stärker wurde, wohl nicht allzu lange. Das mit dem Wetter behagte mir irgendwie nicht. Ich schlurfte wieder zum Hotel, haute mich auf´s Bett und rief Schnuckiputzi an, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, die Häuser sind super. Dann zappte ich durch dreißig Schichten Fernsehen und blieb beim Offenen Kanal Berlin hängen. Irgendeine anarchistische, eher linke Bewegung berichtete in obskuren Beiträgen über ihre Ansichten und Aktionen, was Entertainment nicht nur versprach, sondern auch bescherte. Highlight des Abends war ein Interview mit zwei Che Guevaras auf einmal, ein junger Mann, ein junges Mädchen, beide vermummt. Da die Frau von den beiden sowohl optisch und inhaltlich, als auch stimmlich stark an Volksfront von Judäa denken ließ, konnte man diesen Auftritt als gelungene Hommage an "Das Leben des Brian" werten und sich erleichtert zurücklehnen in dem sicheren Wissen, daß es mit unserer Jugend endlich wieder aufwärts geht.
Das sah ich auch am nächsten Tag am Laternenmast. Dort hatte jemand einen Aufkleber mit dem schönen Spruch "uns gefällt alles" hingepappt, das erste mal übrigens, daß mich Berlin mal herzhaft lachen ließ. Sofort schien die Sonne. Der Regen vom Vortag war Schnee von gestern, heute würde ein anderer Wind wehen, soviel stand fest. Mein Date mit Archi war auf drei Uhr nachmittags terminiert, ich hatte also noch sieben Stunden Zeit, verbissen durch die Stadt zu irren. Ich beschloß, den Weg der Mauer abzulatschen, beginnend in Friedrichshain, und machte mich gutgelaunt auf die Socken. Dabei fiel mir recht schnell auf, daß ein Fußgänger 2009 in Berlin in etwa so viel zählt wie Egon Krentz 1989. Die Gefahr geht natürlich wie immer vom Volke aus, in diesem Fall vom Bürger mit Fahrrad. In Berlin, müssen Sie wissen, fahren Radfahrer grundsätzlich auf dem Gehweg. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie so breit sind und bewegliche Ziele beinhalten. Es fahren aber nicht nur zwei, drei Radfahrer auf Gehwegen, sondern drei Millionen, und sie fahren nicht mit Tempo acht, sondern mit dreißig, und sie fahren nicht rücksichtsvoll, sondern scheißegal. Und wo wir gerade bei Gefahren sind, auch so´n Punkt: Hundekacke! Offensichtlich besteht Berlin aus drei Schichten. Ganz unten das sogenannte Magma, ganz oben die weltberühmte Berliner Luft, dazwischen Hundekacke und Reichstag. Hundekacke hat sich wie ein matschiger Film über die Stadt gelegt. Wir haben 2009, das ist okay, aber es ist leider auch genau die Hundekacke, in die man zwangsläufig reintritt, wenn man den Radfahrern ausweicht. Um Schäden am Schuh zu vermeiden müßte man beim Gehen eigenlich permanent auf den Boden starren, aber dann kann man die Radfahrer nicht sehen. Was man hingegen gut sehen kann, wenn man sich mal kurz an einen Stehtisch der vielen Bäckereien verkriecht und zwei belegte Brötchen mit Kaffee für 1,80 Euro verzehrt, sind die vielen jungen Männer, die relativ breitbeinig gehen. Kein Zweifel, hier zählt der Sack noch doppelt.
Was einem in Neukölln und Kreuzberg auch auffällt, wenn man eher zum Typus des Wald- und Wiesenheinis gehört, ist die offensichtliche Vorliebe der Berliner für bemalte Flächen. Nahezu alles, was nicht gasförmig ist, ist mit Graffitis veredelt, und zwar mit edlen, bunten Frühlingsgrüßen (die man als Oppa natürlich nicht entziffern kann). Echt irre, was manche Leute in ihrer Freizeit so treiben. Vielleicht gibt es ja abseits des Rock´n´Rolls sogar noch andere Jugendkulturen, wer weiß das schon? Man sieht sogar Graffitis an Graffitis, an Bürgersteigen, selbst an Bäumen, und natürlich an allen LKWs, die länger als zwei Stunden am Straßenrand parken. Da ich in der Regel recht gemächlich durch die Gegend schlunze, hielt ich es für nicht ausgeschlossen, daß man auch mich besprühen könnte. Ich mußte also auf der Hut sein, bereit, sofort zu reagieren, um im Notfall schnell Flitze-Flitze zu machen. Als Historiker von außerhalb war ich natürlich angreifbar.
Doch der Mauerweg, ein vorbildlich beschildertes Erschütterli deutsch-deutscher Geschichte, machte wirklich Fez. Man durchquerte alle möglichen Tragödien seiner Plattensammlung ("das Bethanien wird geräumt!"), seiner Weltanschauung und seines phänomenalen Namensgedächtnisses. Irgendwie, und das ist das Geile an Berlin, stößt man an jeder Ecke auf Begriffe, die man irgendwo schon mal gehört hat ("in diesem Haus wohnte Berthold Brecht"). Schön für Berthold, aber in Kreuzberg, und das war viel wichtiger, hausten damals bedeutsame Politrock-Bands. Ich darf Ihnen versichern, daß es für mich ein ganz besonderes Erlebnis war, auf deren Spuren zu wandeln. Ich, die olle Mauer, und dann noch in Kreuzberg persönlich - also, wenn Sie mich fragen, das war schon Tonk Steine Scherben pur. Logisch, daß ich ziemlich politisiert war, als ich irgendwann am Checkpoint Charlie ankam. Und dann das: Wohin man sah -Touristen! Ein paar ewig Gestrige hatten den alten Kontrollpunkt wieder aufgebaut und einen russischen und einen amerikanischen Statisten in militaristischem Outfit dahingestellt, was von den Holländern toleriert wurde, solange man sein Foto bekam. Wo ich schonmal da war, ging ich in´s Checkpoint Charlie-Museum. Ich hatte mir keine Illusionen gemacht und gar nicht erst darauf gehofft, daß man in diesem Museum die Verdienste der gleichnamigen Anarcho-Combo aus Karlsruhe würdigt und so war es dann auch nicht.
Westwärts führte mich mein weiterer Weg, vorbei am Tommy-Weissbecker Haus (Punk!) gleich gegenüber der SPD-Zentrale (Blues-Rock!), denn mein Stadtplan wies gleich in der Nähe den berühmten Anhalter-Bahnhof aus. Wissen Sie noch, Zeppeline? Das große Vorkriegs-Tamtam, Frauen mit abenteuerlichen Hüten und Zigarettenspitzen, eine Wartehalle voll mit Kosmopoliten, ja, so stellt man sich das eben vor, wenn man den "Nostalgie-Club" von Udo Lindenberg kennt. Aber Arschlecken, Grete Weiser war natürlich nicht mehr da, genauso wenig wie Zarah Leander, aber gleich gegenüber der Ruine lag ein Schlecker-Markt. Bingo! Dort konnte ich mir erstmal neue Einlege-Sohlen besorgen, denn meine Füße hatten inzwischen ihren Zenit deutlich überschritten. Direkt dahinter befand sich das Tempodrom, was aussah wie ein Architektur-Ableger vom Alexanderplatz und dafür von mir neun Punkte bekam. Plakate kündigten schlicht Sensationelles an: Die berühmte Sarah Connor würde dort spielen! Interessant. Was dort natürlich nicht stand, was mir aber schlagartig klar wurde, war, daß sie nach dem Auftritt vielleicht irgendwo noch einen trinken gehen würde und sich einen neuen Lover sucht. Dann bestaunte ich auf dem Poster ihr krummes Gesicht mit dem Schuß verlebter Leere und dann trat ich in Hundekacke.
Pünktlich um drei kam ich nach sieben Stunden Fußmarsch bei Archi an und war total im Arsch. Füße, Rücken, alles. Meine ganze Apparatur war in Sachen Frische das glatte Gegenteil von Nena 1982 bei ihrem Auftritt im Musikladen. Körperlich ging gar nichts mehr und geistig machte mir das Bilden von Sätzen zu schaffen.
Ich hatte Archi seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen und war unter diesen Umständen schwer von mir beeindruckt, weil ich ihn sofort wiedererkannte. Nach einem Kaffee gingen wir zwei Häuser weiter, wo Archi sein Studio hatte. Berliner Altbau mit fünf Meter hohen Decken, großzügig geschnittenen Räumen und urzeitlichen Fensterrahmen, an denen die Farbe abblätterte. Archi teilte sich die Etage mit einem Filmteam, nette Regisseure aus dem offensiven Mittelfeld, ´ne Working Class ohne Londsdale-Schriftzug, aber mit geregelter Erwerbstätigkeit. Und es gab Arbeit. Komischerweise genau in der Zeit, in der normale Leute Fußball gucken. Mit einen gewissen Olli Schulz werkelte man gerade an einem neuen Video und schickte mächtige Vibrations durch die Atmosphäre, denen man sich nicht entziehen konnte. Wie auch? Das Licht war aus, romms!, die Spots waren an, ja!, und die Musik des Künstlers dröhnte in Maximum Volume Motörhead durch halb Neukölln, damit sich Schulzi entsprechend dazu bewegen konnte und nicht aus Versehen BAP-Moves macht. Natürlich ließ ich mich von den erschwerten Bedingungen nicht irritieren und feilte bis in die Nacht mit Archi tapfer an den Mixen unserer neuen Platte, ohne auch nur ein Bier dabei zu trinken. Das änderte sich schlagartig um zwei, als mich Archi noch in seine Stammkneipe schleppte, was insgesamt eine gute Idee war. Der Laden sah mit seiner roten Intimsphäre und der Astra-Leuchtreklame zwar aus wie eine Bumsbude auf St. Pauli, aber an den Wänden hingen The Clash und aus der Anlage dröhnte Country-Musik, umgekehrt wär auch okay gewesen. Da Archi nicht soviel verträgt und ich nicht soviel langsam trinke, torkelten wir nach zweieinhalb Stunden wieder zu Archis Butze, wo ich ein paar Schnarcher später mit Schrecken sehen mußte, daß die Küchenuhr bereits halb zwei anzeigte. Hinzu kam die Sommerzeit-Umstellung, das Aufwärmen und der mangelnde Devisenfluß. Wir hatten noch ein ordentliches Programm vor uns und wollten eigentlich mittags mit dem Abmischen weitermachen. Ich reagierte blitzschnell. Souverän flitzte ich durch den Korridor, riss die Tür seines Zimmers auf und schrie Archi aus dem Schlaf. Dann ging ich zurück zu meiner Umhängetasche, um mir neue Socken herauszufischen. Dabei fiel mein Blick auf meinen kleinen Reisewecker. Der Blödmann zeigte gerade mal halb neun an, seltsamerweise tickte er keck dabei. Irritiert, aber nicht ohne Plan B in der Tasche, ging ich wieder in die Küche. Auf dieser Uhr war es immer noch halb zwei und es tickte überhaupt nichts. Unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Faktoren war davon auszugehen, daß das Miststück kaputt war. Geil, dann konnte ich ja noch einen schönen Spaziergang machen! Ich schlich mich aus der Wohnung und ließ Archi schlafen, beziehungsweise wach bleiben, das würde ihm jetzt sicher gut tun. Ich war jedenfalls beschäftigt, Sie wissen ja: Ein Mann, ein Weg und so weiter. Der Mann war ich, und der Weg war der Walk of Fame. In der Nacht zuvor hatte ich nämlich beiläufig erwähnt, daß Mona gerade ein Foto abmalt, wo der große Joe Jackson gut gelaunt mit seinen Jungs vor einer Imbißbaracke sitzt, die sich exakt unter einem Bahngleis befindet. Zahlreiche Fahrradständer und wohlgeformte, genietete Stahlträger waren weitere wichtige Hinweise auf den heiligen Ort, den die drei englischen Rock-Heroes durch pures Sitzen irgendwann mal so angenehm befleckt hatten. Diese historische Location wollte, nein: mußte ich jetzt besichtigen, soviel stand fest. Archi hatte in der Nacht zuvor noch beiläufig darauf geantwortet, daß der große Joe Jackson in der Nähe des kleinen Görlitzer Parks wohnen würde, ich wußte also genau, wo ich zu suchen hatte. Nach drei Stunden war ich zurück. Oh, Archi war schon auf. Wir gingen wieder rüber in´s Studio, obwohl ich mir absolut nicht sicher war, ob die Imbißbude am Görlitzer Bahnhof oder am Kottbusser Tor stand, ich meine, Dinge verändern sich, gerade in der Gastronomie, und dann blieben wir am Mischpult hängen, bis die letzte Trompete Jerichos geblasen hatte.
Erschöpft fiel ich in mein Gästebett, um halb zwei nachmittags, ach nee, die Uhr war ja kaputt.
Berlin by Fuß. Zwanzig Kilometer Graffitis, Radfahrer und Hundekacke. Der nächste Tag würde einiges von mir abverlangen. Aber er würde mich auch belohnen mit frischer Luft und alten, vergammelten Häusern. Bevor ich mich am frühen Morgen von Archi verabschiedete, polsterte ich meine Schuhe mit Schleckers Einlegesohlen und prüfte die Spannung der Schnürsenkel. Alles Roger. Dann zog ich mir die Jacke über, sagte Tschüss und stand wenig später in der weltberühmten Berliner Luft. Die Scorpions hatten auch mir den Wind of change zugepfiffen, und so marschierte in erstmal ostwärts Richtung Gorbatschow, um mir das Dilemma aus nächster Nähe anzuschauen. Change kann ja etwas Gutes sein. Kann. Muß aber nicht.
Als ich damals direkt nach dem Mauerfall zum ersten mal Ostberlin besuchte, war noch alles super. Die monströsen Plattenbauten zeugten von großer Dichtkunst, es gab Leuchtpropaganda mit coolen Sprüchen und einen halben Liter Bier für eine Mark fünfundsechzig. Man kann von der DDR halten, was man will, aber die Verdienste dieses Staates im Hinblick auf ästhetische Massenwohnbaukunst sind wohl unbestritten. Mir war zwar klar, daß der sozialistische Wohnungsbau nach zwanzig Jahren Westbeton relativ tot sein würde, aber ich wollte versuchen, auf meinem Trip zumindest ein wenig die Leiche zu fleddern.
Die Scorpions hatten leider Recht. Es gab eine Menge Changes. Und die waren alle Scheiße.
Ich hätte mir wirklich von Herzen gewünscht, wenn man nicht nur Hochhäuser und Bierpreise, sondern auch Bahnhöfe, Prestigebauten und die ganze Musik-Szene im Originalzustand belassen hätte. Ganz zu schweigen von Kleidung, Kosmetik und Frisuren, vielleicht sogar zum Anfassen. Statt zum Checkpoint Charlie würden die Touristen dann nach Marzahn und Lichtenberg ausschwärmen, stilecht in einem knötternden Trabant, und dann würden sie wieder nach Hause fahren und ihren jeweiligen Landsleuten von Ostberlin erzählen, wo man irgendwie viel mehr down to earth ist als in London oder Dubai. Und dann staunen alle über unser demütiges Völkchen. Und dann stehen wir im Ausland wieder auf einer Stufe mit dem Papst.
Gut, daß es in Berlin inzwischen eine Tamara-Danz-Straße gab. Schlecht, daß Tamara Danz vorher schon gestorben ist.
Auf der Karl-Marx-Allee wandelte ich dann an den letzten Reliquien einer untergegangen Kultur vorbei und es tat weh, weißgott. Die einst so stolzen Fassaden seelenlos neu verkleidet, das Innenleben brutal saniert - über den so sympathischen, brüderlich gleich aussehenden Wohnwaben eines stets über der Norm arbeitenden Bienenvölkchens, so Auge in Auge mit der Realität, so schön Legostein und so schön überschaubar, war typischer westdeutscher Großkotz gewachsen. Eine Frage der Zeit, wann auch hier die ersten Psychopathen auftauchen werden.
Immerhin erwies mir das ehemalige Filmtheater International, ein in den Sechziger Jahren kühn erbautes Kino-Monster, die Ehre. Die Seiten noch original Weißfliese, grob gemustert, leicht verwittert, die Front vollverglast in luftiger Höhe, schon klar, daß man da von allen Seiten dran leckt. Zwar zog ich mir beim heftigen Bewundern das Mißtrauen einer als Zivilist verkleideten Stasisau zu, aber ich konnte seine plumpen Annäherungsversuche erfolgreich abblocken, indem ich einen auf Psychopath machte und mich gar nicht erst auf einen Tagesgruß einließ.
Um meine Eindrücke politisch korrekt verarbeiten zu können, ging ich gleich nach dem Sex in´s "DDR-Museum" am Spreeufer. Obwohl ich eigentlich nicht so drauf klar komme, wenn sich andere Leute in meiner Gegenwart im gleichen Museum aufhalten und obwohl ich sie fesseln und mit Senf beschmieren könnte, wenn sie sich dann dabei noch miteinander unterhalten, verhielt ich mich ruhig. Erstaunlich ruhig, möchte ich sagen, denn auf das Museum hatte ich mich nicht nur zwei Wochen lang gefreut, sondern hatte mir bereits Prospekte besorgt und war die Highlights im Vorfeld schon im Geiste abgewandert. Nun drohten mir also ein Haufen kanadischer Jugendlicher, ein holländisches Ehepaar und ganz besonders diese Mutter mit ihren vier ungezogenen Blagen, die echt glaubten, alles hinterfragen zu müssen, meine Kicks zu stehlen, und zwar akut. Ich ging ein Eis essen.
Nein, ging ich nicht, denn der Saftkopp wollte für eine Kugel Schoko 1,20 Euro und ich bin doch nicht bescheuert. Ich dachte, wenn du kacken mußt, vielleicht am Alexanderplatz. Ich bestellte mir ein Mittagessen, suchte mir ein schönes Plätzchen und lehnte mich zurück. Dann beobachtete ich eine nicht unattraktive Küchenhilfe, die gelegentlich mein Blickfeld kreuzte, weil ich mich recht clever positioniert hatte. Lange sah ich ihr bei der Arbeit zu, wenn auch nicht nur ihren flinken Fingern, sondern auch ihrer schönen Nase, aber Arbeit. Und es gab einiges zu tun in dem Laden, ich war ja nicht der einzige Gast, dem das Essen nicht schmeckte. Doch beschweren, wozu? Diese Frau war ein wahrer Tausendsassa, wusch die Tassen, portionierte den Grünkohl, bongte die Cola von Tisch 12, und von der Frisur hab ich ja noch gar nichts erzählt. Als Unternehmer, aber auch als Mann, sah ich sofort, daß die Dame wahrlich keine Fehlbesetzung war. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, höchstens mal ein "Silke!", wenn Silke! den vollen Geschirrwagen übersehen hatte. Das war groß. Das war Menschenkenntnis. Das war Führungsstärke. Das war alles auf einmal. Zusammenfassend konnte man sagen, daß ich mir um Yvonne keine weiteren Sorgen zu machen brauchte, falls ich Berlin noch mal verlassen würde.
Ich ging noch mal pinkeln, wusch mir die Hände und richtete mein Haar für weitere Erlebnisse. Ganz in der Nähe war das Nikolaiviertel, ein ausgewiesener Leckerbissen in jedem Touristenführer. Hier stand Berlins älteste Ansiedlung. Schon 1228 erhob sie Markgraf Johann I. zur Stadt. Im zweiten Weltkrieg: alles kaputt. Dann in den 1980er Jahren von der DDR wieder prestigeträchtig neu errichtet, und so sah das auch aus. Häuser, die im Parterre dreihundert Jahre alt schienen, solange man den Blick nicht himmelwärts richtete, denn da war alles hochmoderne Platte. Wenn auch für DDR-Verhältnisse recht dezent, nicht ganz so ultimativ, nicht ganz so groß, das muß man leider attestieren. Insgesamt wirkte das Nikolaiviertel wie ein Körper von Marilyn Monroe mit dem Kopf von Petra Pau.
Ich war inzwischen nun schon fünf Stunden auf Achse, als ich plötzlich den Ausflugsdampfer am Kai erspähte und dachte: Getz gönnze dir ma wat!
Zwei Minuten später saß ich im Schiff. Eine Stunde auf der Spree, ´ne milde Frühlingsbrise, Pott Kaffee dabei, daran war erstmal nichts auszusetzen.
Der Kahn setzte sich in Bewegung, eine junges Fräulein ergriff das Mikrophon und teilte den Passagieren und mir allerhand Wissenswertes mit, einmal in Deutsch und einmal in Englisch.
Ich guckte, ich staunte und machte genau das, was ich am liebsten mach: Gucken und Staunen.
Als wir eine recht große Brachfläche passierten und ich schon dachte, daß mit dem Kaffee was nicht stimmt, wurde mir auf einmal schmerzhaft klar, daß dies ein Wiedersehen mit Berlin war, was erstmals ohne den grazilen Palast der Republik auskommen mußte. Ungeachtet des ganzen schönen Scheins war dummerweise Asbest die letzte Ausstrahlung, die Erichs Lampenladen noch zu bieten hatte. Tja, damit is nun Essig. Zum Glück habe ich zuhause einen Fotoband über dieses beeindruckende Gebäude, es geht eben nichts über Flohmärkte.
Wir schipperten weiter und ich holte mir noch ein paar Inspirationen für meinen weiteren Fußmarsch. Natürlich mußte ich nochmal zum Bahnhof Friedrichstraße, zum Tränenpalast und wenn man zwei Straßen weiter gar keine Ahnung mehr hat, was einen noch erwarten könnte, stolpert man plötzlich über ein kleinstadtgroßes, autonomes Zentrum namens "Tacheles", was in seiner Dimension einem kleinstadtgroßen, autonomen Durchschnittsarsch wie mir glatt die Sprache verschlägt. Das "Tacheles" ist auch der erste autonome Komplex, den es ein paar Meter weiter auf einer Hochglanz-Postkarte zu kaufen gibt, was ich mit meiner beschränkten Lamettarübe schlicht sensationell finde. Ich ging davon aus, daß vermutlich genau jetzt der Zeitpunkt für eine gute, original Berliner Currywurst gekommen war, aber sicher war ich mir nicht, als ich den Imbißwirt beim Zubereiten beobachtete. Statt einfach nur eine von den schönen, gebräunten Würsten vom Grill zu nehmen, sie in Stücke zu schneiden und mit einer möglichst schmackhaften Tunke zu bedecken, ließ der Mann die Würste Würste sein und schmiß irgendein längliches Teil in seine Friteuse. Ich hielt es für gut möglich, daß er mich ostwestundsprachbedingt gar nicht richtig verstanden hatte, wollte ihn aber auch beim Hineinstarren in das brutzelnde Öl nicht weiter stören. Nach fünf Minuten war das Stück dann gar. Er nahm es heraus, schnitt es in mundgerechte Happen, und gab reichte mir den undefinierbaren Brutzelpimmel, auf daß ich kurz vor meiner Abreise noch schön kotzen möge. What´s so funny ´bout peace love and Falafel?
Dann kam der Plattenladen. Als ich schon gar nicht mehr damit rechnete, lag er plötzlich vor mir. Über zwei Etagen Second-Hand-Ware, das Personal mit schönen, schulterlangen Haaren, die Tasche an der Theke abzugeben, perfekt. Mit meinem restlichen paar Kröten erstand ich noch vier scharfe Ostrock-Platten für vierzig harte West-Euros und machte mich so langsam auf den Weg zum Hauptbahnhof. Da ich schon wieder pissen mußte, landete ich vorher noch in einer Kneipe namens "Wahlkreis". Im Nachhinein bin ich dafür auch sehr dankbar, denn sowas hab ich auch noch nicht gesehen. Strenggenommen war ich der einzige Gast. Die Bedienung, eine junge Frau, saß vor einem Laptop und ließ sich von einem etwa gleichaltrigen Typen die Welt erklären. Ich sah sofort, daß der Lümmel nur auf´s Ficken aus war, aber Madame schien unbeeindruckt und brachte mir nach nur fünf Minuten den Capuccino. Wo war ich da nur gelandet? An den Wänden Regale, darin Ausstellungsstücke von verschiedenen politischen Parteien, hauptsächlich CDU, FDP und SPD und mittendrin, für´s bloße Auge unsichtbar, eine Maxi-Single der Gruppe Boney M mit dem Titel "Obama Obama". Vielleicht eine Kneipe für politisch Unentschlossene? Ich gab dem Girl zehn Cent Trinkgeld und machte mich auf den Weg zum Zug. Der war früher immer vom Bahnhof Zoo abgefahren, da war noch alles easy und echt Berlin. Ob die Herrschaften sich mit dem neuen Hauptbahnhof architektonisch wirklich einen Gefallen getan haben, weiß ich nicht. Vor allem der Ausblick auf die Neubauten stimmte nachdenklich. Berlin muß verdammt nochmal aufpassen, daß der erste und letzte Eindruck nicht an Düsseldorf erinnert, sonst fahren die Leute womöglich beim nächsten mal direkt nach Hannover.
Pünktlich um zehn vor sieben rollte mein Intercity ein. Ich suchte meinen Platz, trank einen Schluck Kakao und unterschätzte meine Wirkung auf die übrigen Passagiere, die zum Teil recht merkwürdig glotzten, nur weil ich in einem KISS-Fan-Lexikon blätterte.
Als ich vier Stunden später wieder Duisburger Boden betrat, wußte ich einiges über Paul Stanley und Bläsersätzen auf dem offenbar unterschätzten "The Elder"-Album. Reisen bildet eben.

 

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