//die monatliche Kolumne im Netz und nur auf diesen Seiten//

 

Der Juli 2008:
Bon Jovi: "It's My Life"

Kaum hatte der Bombenhagel nachgelassen, bekam ich ein Fahrrad. Ich liebte Paris. Ich weiß noch, wie wir immer alle Hunger hatten. Ich war damals zwischen vier und zwanzig, meine Geschwister auch so um den Dreh. Aber hatte ich überhaupt Geschwister? Ja. Meine Eltern waren noch da und mit denen wohnten wir in einem Haus. Zusammen haben wir dann oft viel gemacht an manchen Tagen, aber manchmal auch nichts besonderes. Meistens so dazwischen. Es muß nach dem zweiten Weltkrieg gewesen sein und ich bekam meine Erziehung. Viel konnte ich nicht sprechen, aber an meine ersten Worte erinnere ich mich ganz genau. Es waren schöne Worte, die unser Leben mit sich brachte, wogegen sich die Nachbarn aus allem heraushielten. Als ich dann älter wurde, hatte ich andere Interessen und bastelte stundenlang mit meinem Freund Michael an unserem alten Jägerzaun herum. Zu dieser Zeit starb auch mein Onkel durch Selbstmord. Mit Michael machte ich später in der Schule eine Menge Geld. Das half uns über Zeiten, in denen eine Menge wenig Geld die Regel war und nicht Wohlstand, wie ihn heute manche besser kennen als andere.
"Geh doch noch mit dem Hund raus" sagte mein Großvater und stichelte meinen Hinterkopf, an dem sich bereits meine Musikalität ballförmig ausbeulte.
Als die Schule vorbei war, mußten wir neu tapezieren. Es war ein heißer Sonntag, meine Mutter saß vor dem Radio und heulte.
"Was ist los, Mutter" fragte ich meine Mutter. Sie wischte sich kurz die Augen trocken, sah mich an und sagte es mir. Aha. So war das also. Ich sah in den Garten, wo die Primeln blühten. Das war ein gutes Zeichen und bei schönem Wetter konnte man den Zugvögeln nachsehen, wie sie ihren Weg in andere Gefilde ansteuerten. Viele Primeln zogen sich durch meine Jugend, denn wir lebten damals zwar in der Stadt, aber etwas außerhalb, ein bißchen ländlich, aber immer noch zentral. Kurz vor meinem 18. Geburtstag mußten meine Eltern für längere Zeit ins Gefängnis und ich stand alleine da. Zusammen mit meiner zweiten Frau, die ich inzwischen geheiratet hatte, setzte ich neue Blumen aus, aber keine Primeln, sondern Tulpen. Irgendwie war mir das Alte, Wohlvertraute zu verkrustet. So fühlt nur ein Rebell. Meine zweite Frau hieß Anne-Sophie. Meine erste Frau hieß Charlotte. Meine Mutter hieß Lydia. Ich liebte Anne-Sophie, obwohl ich meine Mutter natürlich auch liebte, aber die Liebe hatte eine andere Art. Anne-Sophie war ein unbeschriebenes Stück Blatt, obwohl sie die Tochter des damaligen CDU-Bundeskanzlers war. Wir kannten uns über Elvis. Unbeschwert saßen wir in unserem Garten. Die Nachkriegszeit hatte inzwischen viele Wunden verheilen lassen, auch im Stadtbild unserer Stadt, wo der Straßenbelag hochwertiger war als in vielen Teilen des Memellandes. Von der Aufbruchstimmung angetrieben gründeten wir eine kleine Chemiefabrik. Das Leben zog dahin, aber dann war da auf einmal ein schöner Wintertag, als es geschah. Ich werde nie vergessen, wie ich meinen Schuh zuband, als plötzlich ein Senkel riß und sich alles zu einer ernsthaften Krise zuspitzte, aber es war dann doch nicht so schlimm. Wir haben das Problem gemeinsam gelöst und im Nachhinein betrachtet bin ich Anne-Sophie dafür unendlich dankbar. Ja, ich kann sagen, daß sie mich erst zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ihre Fürsorge, ihre liebevolle Art und ihre Wärme sagten mir spontan zu, obwohl die Geschichte mit ihrer Fehlgeburt natürlich nicht schön war. Mit Bodo, den ich auch heute noch kannte, knoteten wir Stofffetzen zu Fußbällen zusammen und bolzten auf der Straße herum. Bodo konnte wahnsinnig gut schießen. Er hatte schwarzes Haar und sah ein bißchen aus wie Petra Schürmann. Zwar kamen wir abends oft völlig geschafft nach Hause zu unseren Frauen, aber unsere große Liebe war immer die Musik. Bei ihm waren es mehr die traditionellen Sachen, wogegen ich eher das alte Zeug bevorzugte. Zwei Jahre später ging Bodo nach Somalia oder Kenia, und Anne-Sophie und ich standen an jenem Tag am Flughafen und waren total traurig, Ach so, wir haben noch ein Kind bekommen davor und sind sofort umgezogen. Die Wohnung war ja inzwischen viel zu klein.
"Ich muß dir was über deine Mutter sagen" sagte mein Großvater fünf Jahre, bevor ich Jennifer Toulouse kennenlernte. Zwar hatte ich mit Travestie nicht viel am Hut, wir waren bodenständige, gutbürgerliche Landsleute, aber irgendwie machte es klick und ich stand auf der Bühne. Daß mir einmal fünfzigtausend Menschen zujubeln, hätte ich nie gedacht, aber wahrscheinlich war mein Weg vorbestimmt. Der Krieg war inzwischen lange vorbei und nichts erinnerte mehr an diese dunklen Tage. Mit Anne-Sophie verband mich inzwischen nichts mehr. Zwar konnte ich ihr verzeihen, daß sie mich vergiften wollte, aber die Travestie zog mich immer mehr in ihren Bann, und natürlich New York. Was für eine Stadt! Nachdem wir mit dem Fußballspielen aufgehört hatten, fingen wir mit Tischtennis an. Wir trugen ein, zwei schöne Matches aus und wären danach in die Sauna gegangen. Hatte ich am Ende zu hoch gepokert? Es war nicht das erste mal, daß mir die Hose am Saum einriß und ich an Tante Elvira denken mußte, wie sie ihren Tee trank. Mit abgespreizten Fingern hielt sie ihre Tasse, während sie am Tisch saß und ihre Frisur sich nicht veränderte. Sie fror sehr leicht, fuhr aber mit dem Fahrrad in den See, woran ich schnell merkte, daß ich mein eigenes Leben führte.
Dieses Leben ist ausgefüllt von Fernsehgucken und Saufen. Zwar mache ich nach wie vor gelegentlich Musik, aber das ist nichts Ernsthaftes. Die Qualität meiner seriösen schriftlichen Ergüsse allerdings, zu bewundern in Zeitschriften, Büchern und Internetten, führten jüngst zu zwei bemerkenswerten Anfragen, die unabhängig voneinander fast zeitgleich an mich gerichtet wurden.
Zum einen bat mich Ralli, seine Biografie zu schreiben - er würde mir dann auch erzählen, wie er in Berlin Christiane F. getroffen hätte, angeblich eine Knallerstory- zum anderen bat mich Roman, das gleiche zu tun, nur mit ihm statt Ralli und ohne Christiane F.
Das ehrt mich natürlich, und so habe mich mal ein paar Stunden mit den wichtigsten biografischen Spielregeln beschäftigt, wie man an diesem gelungenen Artikel unschwer erkennen kann. Ich glaube, ich bin genau der richtige Mann dafür.

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Der Juni 2008
Johnny Cash: "Peace In The Valley"

Während viele Menschen den Sommer dazu nutzen, sich neue Brüste machen zu lassen oder Geranien zu pflanzen, sitze ich wie ein paar Millionen anderer Menschen auch gemütlich vor dem Fernseher. Dieses Ritual ist weder anspruchsvoll noch anstrengend, sondern zielt eigentlich nur darauf ab, sich den Abend zu versüßen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich mache das mit alten Brüsten, ich mache das völlig ohne Blumen und ich mache das in vollem Bewußtsein, daß das, was ich da mache, einfach nur wundervoll ist.
Meine kleine Spaßgesellschaft besteht aus einer attraktiven Frau mit grauen Socken, einem grauen Typen mit Rory Gallagher-Platten zuzüglich diverser, ich darf sagen: ganz entzückender Knabbereien, die gelegentlich serviert und aufgegessen werden.
Tag für Tag versammeln wir uns mit etwas Limonade, dem ein oder anderen Lakritzbonbon und den Resten aus unserem Kühlschrank. Wir verlangen nicht viel vom Fernsehen, das Fernsehen verlangt nicht viel von uns, und es ist gut so. Bis es Abend wird. Dann legen wir die Füße hoch und schauen der niederländischen Fußball-Nationalmannschaft beim Zaubern zu.
Wenn diese Kolumne nicht so aktuell wäre, könnte man sich glatt alte Aufzeichnungen anschauen. Videos mit lekker Johan Cruyff, Ruud Gullit und Marco van Basten, Filmchen mit Tricks und Magie, mit Fallrückziehern und Dribblings, mit Flanken aus dem Fußgelenk und Pässen mit der Hacke, mit Flugkopfbällen und Übersteigern, aber auch mit Schönheit und Ästhetik.
Die Abendvorstellung der elf Rastellis sieht in etwa so aus: Nachdem das Spiel angepfiffen wurde, dauert es in der Regel keine zehn Minuten, bis der Ball zum ersten mal im gegnerischen Netz zappelt. Das Ganze wird sich noch vier- bis achtmal wiederholen, wenn der Torwart gut ist und das Ensemble vom Zirkus Willem II halbwegs im Rahmen seiner Möglichkeiten agiert. Fußballspiele dieser hochbegabten Künstler gleichen eher einer Symphonie als Deutschland gegen Kroatien, was bei jedem normalen Menschen den Reflex auslösen müßte, sofort im Takt von Golden Earring-Hits mit der Zunge zu schnalzen.
Den Zuschauer, zum Beispiel den Vizeweltmeisterbesieger, erwartet ein neunzigminütiger Säbeltanz in Orange, und den Künstler, zum Beispiel den Vizeweltmeisterbesiegerbesieger, erwartet tiefer Respekt aus der niederländischen Kolonie Duisburg. Da kann es schonmal vorkommen, daß man sich bei dem Gedanken ertappt, mal wieder Holzschuhe zu tragen.
Vor dem Fernseher ist unterdessen die Hölle los. Der Typ mit den Rory Gallagher-Platten krault der attraktiven Frau mit grauen Socken die Füße, die Frau fängt leise an zu schnurren und reißt sich zwei Minuten später die Socken vom Leib. Der Typ schnalzt im Takt von Golden Earring-Hits mit der Zunge, Tabak wird gedreht, Kaffee wird gekocht und wie selbstverständlich finden sich auch die Erdnußflips wieder ein, die bei Griechenland gegen Schweden noch fluchtartig das Public Viewing verlassen hatten. Kaffee, Füße, Flips - ein einziger Exzess.
Der einzige, der relativ euphorisiert, da inzwischen auf Wolke Batavia, dem famosen Spektakel die Stirn bietet, bin ich. Vielleicht, weil wir nur eine begrenzte Zeit auf diesem Planeten verbringen und es mir wichtiger ist, daß wir Holland unseren Kindern so übergeben, wie wir Holland einst vorgefunden haben, mit Ausnahme von Linda de Mol natürlich, weil ich mir Windmühlen als Energiespender der Zukunft vorstellen kann und diese Kolumne auch dazu nutzen möchte, einfach mal nach Venlo zu fahren, weil Venlo nicht nur zu Fuß, sondern auch mit dem Automobil absolut erreichbar erscheint, und weil man in Venlo Schuhe für fünf Euro das Paar bekommt, wahrscheinlich aber eher aus dem Grund, weil ich als einziger im Raum überhaupt mit der Zunge zu Platten von Golden Earring schnalze.
Als Fan von Golden Earring versuche ich natürlich, dem Rock von Golden Earring etwas abzugewinnen und sage "schön", wenn "Mad Love´s Coming" oder "The Grand Piano" läuft. Wesentlich häufiger sage ich allerdings "so eine Scheiße" oder "das kann doch nicht wahr sein", weil auch Plattensammlungen ihre Grenzen haben. Und zwar die des persönlichen Geschmacks.
Und so kommt es, wie es kommen wird: Ende Juni wird das Volk mit den Holzschuhen Europameister sein.
Okay, das wird mein Leben nur wenig verändern, wahrscheinlich sogar gar nicht. Denn nicht der Beste soll gewinnen, sondern der MSV. Oder glauben Sie im Ernst, ich möchte erstklassigen Fußball sehen?

 

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