V.A.
BEAT ON THE KRAUTS VOL. 2
(BRD 60ER JAHRE)

Auch die Bundesrepublik hatte Mitte der Sechziger Jahre eine lebendige Live-Musik-Szene. Die meisten Bands waren saufende Musikboxen, denn ohne das Chartfutter der KINKS, der BEATLES, der ANIMALS im Programm bekam man keine Auftritte. Es gab abertausende Beatgruppen, die in hunderten von Festhallen und Saalbauten für einen Kasten Bier und Kartoffelsalat die ganze Nacht durch spielten, sich Schlägereien mit aufgebrachten, anständigen Bürgern lieferten und mit ihren langen Haaren Schulverweise oder den Verlust der Lehrstelle riskierten. Die meisten Combos erlangten bestenfalls lokalen Bekanntheitsgrad, aber diese Jahre waren die Höhepunkte im Leben unzähliger Melodie- und Schlaggitarristen. Bedauerlicherweise hat sich kaum jemand die Mühe gemacht hat, deren Memoiren zu schreiben. Zwar existieren ein paar nette Bücher über Beatmusik in den verschiedenen Landesteilen, gemessen an der unglaublichen Anzahl der Bands ist das aber eher nichts. Völlig unverständlich. Ich glaube, daß man nirgendwo sonst soviel über das Leben, die Sinnlichkeit des Moments, über Glück, Lust und Tragik erfahren könnte wie in Büchern über Bands, die es nicht geschafft haben, über die Grenzen von beispielsweise Schermbeck oder Hückeswagen herauszukommen.
So ruhet in Frieden, Ihr unbekannten Soldaten des Rock! Ich denke an euch, wenn ich den rührenden Film The Heartbreakers sehe (nicht den aus Hollywood, sondern den aus Recklinghausen) oder in dem Roman Die Stones sind wir selber blättere (nicht den aus Recklinghausen, sondern den aus Duisburg).
Von den etwas bekannteren Bands der zweiten bis zehnten Garde sind einige auf diesem Sampler versammelt. Die Namen reichen von den RAINBOWS (mit ihrem Hit "Rotkarierte Petersilie"), den STARFIGHTERS, den JAIL-BIRDS, den REBBELS, den GENTS bis hin zu PERCY & THE GAOLBIRDS. Die hätten sich damals wohl auch nicht träumen lassen, auf einem Sampler mitzuwirken, der fast vierzig Jahre später in den USA herauskommt. Ja, Mann, in den USA! Also dort, wo sie wissen, wie man´s macht.
Well, in der Tat beweist das Label ein imperialistisches Kulturverständnis, das man als überheblich bezeichnen darf, wenn man sich die Covergestaltung betrachtet und bedenkt, woher die BEATLES, KINKS und STONES stammen. Vielleicht war die teils recht unkonventionelle Schreibweise einiger Bandnamen ein Grund, sich darüber lustig zu machen (immerhin steht Life Recording auf dem Cover), vielleicht war aber auch der frische Sound unserer Helden ausschlaggebend, so eine Platte überhaupt herauszubringen.
Ahnungslose mögen darüber mußmaßen, aber ich weiß, daß es eine Mischung aus billigem Spot, Faszination und Anerkennung ist, die einen Amerikaner beim Hören durchströmt, denn es sind die gleichen Gefühle, die mich durchströmen, wenn ich DDR-Rock höre.
Doch trotz aller interkontinentaler Glückseligkeit gibt es auch Bands, die auf diesem Sampler nicht vertreten sind. Eine von ihnen heißt THE BEATS.

Ein regnerischer Novemberabend. Ich schlendere mit Lothar durch die Straßen, die samstags unseren Mikrokosmos kreuzen und mal in die Zivilisation und mal in die Botanik führen. Wir haben keine Pläne, nicht einmal eine sinnvolle Vorstellung von Richtung und lassen uns von Lichtern, Düften und plötzlichen Eingebungen treiben.
Wir sind gut drauf. Ich bin besoffen und Lothar hat seine Psychose, und ich weiß nicht, ob das, was er sich eingepfiffen hat, für oder gegen ihn arbeitet.
Es ist Ende 1990 und wir reden über Frauen. Lothar hat ein paar beeindruckende Vorstellungen, die seine bisherigen Theorien noch übertreffen. Auch ich bin Single und rechne mir Chancen bei Gabi aus, verbringe aber ein paar Abende mit Clarissa, die so liebevoll und nett ist, daß ich mich vor ihren Abgründen fürchte.
Unser Dealer für Pizza heißt Toni, unsere Pizza heißt Margherita, unsere Margherita ist heiß. Schräg gegenüber gibt´s Livemusik in einem Laden, der sich Fabrik nennt, obwohl die Betreiber nicht wie Arbeiter aussehen, sondern eher so, wie man sich Wehrdienstverweigerer und Gammler vorstellt. Als Sensation des Abends präsentieren sich HARMONICA PETE & THE BLUES JUKES, die mal wieder in der Stadt sind und darüber singen, daß sie morgens aufgewoketen und Big Momma gegone war.
Das ist nichts für uns. Wir verduften, stiefeln durch den Nieselregen und reden über Frauen, die vielleicht dableiben würden. Wir ritzen die üblichen Namen und Proportionen in die Nacht, stellen uns vor, wie glücklich sich die Damen wohl schätzen würden, wenn sie einer von uns auch nur auszieht und einigen uns darauf, daß unser Style echt voll okay ist. Eigentlich ist es sogar sehr cool von uns, daß wir derzeit mit keiner Frau in´s Bett gehen. Dann kann sie am nächsten Tag auch nicht verschwinden.
"Los, da gehen wir jetzt rein" sagt Lothar, als wir gegen die Außenmauern eines häßlichen Zweckbaus pissen und feststellen müssen, daß der Regen immer stärker wird. Es ist die Aula der Getrud-Bäumer-Schule, aus den offenen Türen hören wir Stimmen, Gelächter und die Musik einer uns unterlegenen Rasse.
"Okay" erwidere ich, "wenn dich Matthias Reim nicht stört."
Lothar schüttelt den Kopf und kennt mich gut genug, daß er sich das Schütteln sparen kann. Ich weiß, daß er die DOORS hört, daß er JEFFERSON AIRPLANE vergöttert, daß er mir für mein Fanzine Artikel vom Kaliber "Warum Hippies besser sind als Punks" zuschustert, aber offensichtlich ist der prasselnde Regen ein echtes Argument.
Wir staksen in das hell erleuchtete Foyer und sehen uns vorsichtig um. Uns wird augenblicklich klar, daß wir uns in eine andere Galaxie gebeamt haben, einem Parallel-Universum, das drei Treppenstufen über dem unserigen liegt. Da, wo wir herkommen, ist die Atmosphäre erfüllt mit herzhaften Zigarettenrauch, hier liegen bleiernde Schwaden Parfum in der Luft. Zuhause begnügen wir uns mit tropfenden Kerzen, hier kommt das Licht aus Neonröhren. Inmitten dieser Soße schwänzeln zufriedene, lachende und seltsam gekleidete Leute herum, denen ich nicht die Hand schütteln möchte. Frauen mit glitzernden Handtaschen und abenteuerlichen Frisuren, Männer mit Krawatten, Bierbäuchen und Halbglatzen, Kinder mit Sweat-Shirts, wie sie Tennisprofis tragen. Lothar und ich stehen in der Ecke und glotzen uns an, und als spüren, daß die Freaks uns anglotzen, drehen wir uns zur Wand. Dort hängen Rauchverbots-Schilder und Plakate mit dem heutigen Datum. Darauf steht:
Große CDU-Fete
und weiter unten
Life-Musik: THE BEATS.
Na, immerhin. Live-Musik mit den BEATS ist besser als Reden über soziale Marktwirtschaft, im übrigen sind die BEATS gar nicht mal so übel für ihr Alter. Ich habe sie schonmal bei dem Fest einer anderen Partei gesehen und finde es irgendwie putzig, daß die Jungs dermaßen politisch engagiert sind, daß sie sowohl auf CDU- wie SPD-Feten spielen. Aber man braucht kein Parteibuch, um zu den Evergreens der STONES, BEATLES und EVERLY BROTHERS viel Bier zu trinken, zumal die Preise zivil sind und viele einsame Hühner herumlaufen.
"Hallo" haucht plötzlich jemand, während ich an der Theke auf mein Bier warte, "ganz schön laut hier."
Ich schaue zur Seite, und da steht sie: Die Frau, mit der ich heute abend in die Kiste springe! Sie zeigt ihr makelloses Lächeln, sanft umzogen von kirschroten, vollen Lippen, die ihr einen verwegenen Touch verleihen.
Die Band spielt "She Loves You" und natürlich spielt sie das jetzt.
"Ich bin Simone" sagt sie, spielt den Anfang von I Want To Hold Your Hand und reicht mir ihre zarten Finger.
Ihre Augen sind so groß wie Ostereier. Ihre Blicke schlendern über eine Long And Winding Road mit einem Taste Of Honey und sagen eindeutig For Sale. Wenn dieses Girl keine Rubber Soul hat, bin ich der Fool On The Hill.
Ich schüttel ihr schmales Händchen, das in meiner Pranke versinkt und sich anfühlt wie ein in Seide gewickeltes Vollkornbrötchen.
"Thomas" stelle ich mich vor. Sofort trägt sie wieder dieses Lächeln, mit dem Schwangerschaften beginnen. Es ist das gleiche Lächeln, das auch Verkäuferinnen zeigen, wenn sie dir ein Pfund Gehacktes in Papier einschlagen, ein Lächeln, das alles sagt und nichts. Nicht schlecht für den Anfang.
Simone beugt sich über die Theke und gibt eine Bestellung auf, für die sie zwei Handzeichen und ein Kopfnicken braucht.
"Wirklich laut hier!" brüllt sie mir lachend in´s Ohr, während die Band in einem Medley ihre Jugend zurückholt. Es ist sehr laut, und es hat den Anschein, als sei Simone das nicht gewohnt. Immer wieder hält sie ein Ohr zu, als müsse sie sich vor EQUALS-Songs schützen.
Ich bin mir sicher, daß sie als Verwaltungsfachangestellte ihr Leben vertrödelt, vielleicht auch als Zahnarzthelferin, aber ich sehe an der Art, wie sie ihren Weißwein trinkt, daß sie sündhaft teure Unterwäsche trägt.
"In welcher Ortsgruppe bist du" fragt sie beiläufig, während sie ihre Jacke auszieht, um sie über ihren Arm zu hängen.
"Ich? Äh, ich...also, pfft..." stammele ich und bemerke in diesem Moment, daß sie keinen BH trägt. Wahrscheinlich kann man an meinem Blick ablesen, daß ich in Situationen wie diesen andere Prioritäten setze. Auch Simone kann das und läßt ein kurzes Grinsen über ihr Gesicht huschen.
"Bist du allein hier" frage ich und bekomme das Nicken, das ich erwartet habe.
"Du auch?"
"Ja" sage ich und es ist vollkommen logisch, daß ausgerechnet in diesem Moment Lothar von seiner Erkundungstour durch die christlich-demokratische Galaxie zurückkehrt. Obwohl ich gerade ziemlich offensichtlich dabei bin, mit Simone eine Koalition zu bilden, macht er sich nicht die Mühe, ihr auch nur einen Blick zu schenken.
"Laß abhauen, hier sind nur Bekloppte" sagt er und zerrt an meinem Ärmel. In seinem Gesicht, das vor Anspannung einem zuckenden, großen Muskel gleicht, zeichen sich Ekel, Panik und verschiedene Medikamente ab. Lothar ist nicht gerade leise. Ich bemerke, wie uns die Leute anstarren mit diesem Anstarren, das man nicht bemerken soll, und ich bin irgendwie froh, daß diese Sache nur uns beide betrifft. Ich kenne seine Paranoia, wir hängen ja fast täglich miteinander ab, sowas passiert jede Woche und bin bislang ganz gut damit gefahren, ihr keine große Bedeutung beizumessen und den Spaß unserer Meetings nicht danach auszurichten, ob Lothar plötzlich am Rad dreht. Meistens legt er sich irgendwann hin und schläft.
"Draußen regnet´s" erwidere ich und schiebe vorsichtshalber noch nach, daß es hier doch eigentlich ganz nett ist.
"Ganz nett. Jo, hast Recht." Lothar läßt meinen Arm los, dreht sich um und verschwindet wieder in der Menge. Vielleicht muß er nur zwei Gänge runterschalten.
"Ich mag die KINKS" sag ich zu Simone, die an ihrem Weinglas nuckelt und langsam ihr Lächeln wiederfindet.
"Ja, echt, eine geile Band" bekräftige ich, weil ich die KINKS nun einmal mag, weil die BEATS gerade "You Really Got Me" spielen, und weil Simone dann möglicherweise vergißt zu fragen, wer der Typ gerade eben war.
"Die KINKS waren die Kings" sage ich, weil es mir egal ist, daß ich einen im Kahn habe.
"Ich find Bryan Adams besser" sagt Simone. Ich nicke. Ein Nicken, das mich Überwindung kostet, ein Nicken, über dem in dicken Lettern Geilheit steht und ein Nicken, das sie nicht einmal bemerkt, weil ihre Blicke durch die Aula wandern. Ich proste ihr zu. Sie sieht es nicht.
Vielleicht ist sie gar nicht nicht alleine da, hat die ganze Zeit nur Mist erzählt und wollte nur ihren Marktwert testen?
"Prost" schreie ich und wedel mit meinen Becher vor ihrer Nase herum.
"Prost" sagt Simone und lächelt wie eine Verkäuferin, die mir ein Pfund Gehacktes in Papier einschlägt.
Dann trennen sich unsere Blicke, um sich in stillem Synchronismus zur Bühne zu richten. Die Band stampft sich durch ein paar Standards und die zwei Personen, die das am wenigsten interessiert, hören am intensivsten zu. Ich spüre, daß ich bei dieser Frau mit meinem Latein am Ende bin, während meine Gedanken noch krampfhaft nach einen schmissigen Satz in Deutsch fischen. Ich schiele zu ihr rüber. Im Großen und Ganzen ist ihr Profil wirklich nicht übel, auch wenn sich bereits andeutet, daß ihr schöner Hals irgendwann unter einem stattlichen Doppelkinn verschwinden wird. Ich blicke wieder zur Bühne. Die Band spielt BEATLES.
"Möchtest du noch was trinken" frage ich und sehe in einem Augenwinkel, wie Simone lächelt und im anderen, wie Lothar auf die Bühne klettert, sich umschaut und langsam seine Jacke auszieht. Verdammt, was macht der Kerl da?
Der BEATLES-Song gerät hörbar ins Stottern. In den Augen von Paul und John steht Schulterzucken, während Lothar mit seiner Jacke Richtung Schlagzeug stakst und sie dem Drummer ins Gesicht pfeffert. Der ist Profi, schüttelt sich das Ding ab und spielt nach kurzem Aussetzen weiter.
Scheiße, die Sache mit Simone kann ich jetzt endgültig vergessen. Sie weiß, daß der Freak irgendwie zu mir gehört. Ihr Lächeln ist verschwunden und ihr Mund steht weit offen. Offensichtlich hat sie panische Angst vor Anarchie. Ich stelle mein Glas ab, und arbeite mich ein paar Meter weiter nach vorne, um in der Nähe zu sein, falls die Sache eskaliert.
Danach sieht es aber im Moment nicht aus, im Gegenteil. Es wirkt eher souverän, wie sich
Lothar sein Hawaii-Hemd aufknöpft, es auszieht und lässig zu Boden gleiten läßt. Dann schlurft er zu dem Flügel, den jemand für spezielle kulturelle Leckerbissen am Bühnenrand dauerhaft geparkt hat, klettert auf die edle, hölzerne Abdeckung, legt sich hin und zündet sich eine Zigarette an.
In der Halle ist es totenstill. Lothar pafft lautlos vor sich hin, die Band spielt schon lange nicht mehr, und dem Publikum fehlen die Worte. Die Luft ist elektrisch geladen mit dieser adrenalindurchtränkten Stille, die normalerweise in Aggression umschlägt, aber das hier ist einfach zu unfaßbar für die anwesenden Jungunternehmer.
Die Ordner machen nichts, die Band macht nichts, nur Lothar liegt im Unterhemd auf dem Klavier und bläst genüßlich Rauch durch beide Nasenflügel. Nach einer Weile läßt er langsam seine linke Hand sanft in der Luft kreisen. Es sieht aus wie eine noble Geste, die der Band signalisieren soll, daß sie ruhig weiterzuspielen kann.
Die Jungs spielen weiter, vergessen, daß sie die BEATS sind und spielen tatsächlich "Eisgekühlter Bommerlunder". Die Ordner vergessen, Lothar anschließend ein paar auf die Schnauze zu hauen und Simone vergißt, mich nach meiner Telefonnummer zu fragen.

Und ich vergaß nach all den Jahren fast die BEATS, bis ich den Drummer in einem Büro wiedertraf. Ich behielt das Erinnern für mich und sprach ihn nicht auf diesen Gig an. Irgendwie war mir das immer noch peinlich, sodaß ich das, was sich ein paar Minuten später in diesem Büro abspielte, mehr als Wiedergutmachung betrachtete. Ich gab ihm ein bißchen Rock´n´Roll zurück und schloß bei ihm zwei Versicherungen ab.

|| nach oben