PRETTY THINGS
PARACHUTE
(GB 1970)

Ach, kommen Sie, ich weiß längst Bescheid. Sie denken, der Tonk schreibt immer so ein seltsames Zeug, der ist bestimmt ein großer Witzbold, aber unterschätzen Sie mich nicht! Ich bin wie eine Frau, die ihre Tage hat und kann mich binnen Sekunden von Mister Bombastic in eine alte Zitrone verwandeln. Meistens sind es Partys mit zuvielen Arschnasen oder Discos mit zuwenig Rock´n´Roll in der Hütte, die den Anlass liefern, meinen launischen und griesgrämigen Mister Hyde offensiv nach außen zu tragen. Das liegt daran, daß ich mich schnell langweile. Falls Sie also beabsichtigen, mich zu Ihrer Party einzuladen, hier ein paar Tips: Sorgen Sie dafür, daß genügend Frauen zugegen sind, die mich ansprechen. Spielen Sie Musik aus den Jahren 1956 bis 1979. Ich möchte einen Sitzplatz in der Nähe der Schale mit den gerösteten Erdnüssen. Stellen Sie einen Bediensteten ab, der mir ohne weitere Anweisung ein frisches Glas Pils bringt, sobald das alte halbleer ist. Wenn ich das WC benutzen möchte, hat es frei zu sein. Vermeiden Sie Themen wie Formel 1, Gesundheitsreform und festverzinsliche Wertpapiere. Falls mir der Sinn nach Konversation steht, erwarte ich interessante Gesprächspartner vom Schlage der älteren Herren, die ich glücklicherweise schon kenne und die mir die Geschichte der Rockmusik in kleinen Portionen aus erster Hand erzählen. Nur so funktioniert das. Ich brauche den authentischen Stoff von Fans, von Bekloppten, ich will sie dabei atmen hören, in ihre leuchtenden Augen sehen, und erleben, wie sie mit Händen und Füßen die viel zu kleine Verstärkeranlage der KINKS, damals, 69, in die Luft malen und ich will ihnen glauben, daß es nichts schöneres gab, als wegen den DOORS den letzten Bus zu verpassen oder wegen den DEAD KENNEDYS von der Schule zu fliegen. Rock´n´Roll ist alles. Diese Musik hat es verdient, daß die Verrückten persönlich ihre Erlebnisse an die späteren Generationen vererben, weil es besser ist, ein vernebeltes Stück Wahrheit von einem besoffenen alten Sack zu erfahren, als schmucklose Fakten in einem Rock-Lexikon zu lesen, die irgendein Streber in seinem Wohnzimmer in den Computer gewichst hat.
So war ich dabei, als die SEX PISTOLS 1976 in London und DEEP PURPLE 1970 in Duisburg spielten, ich beobachtete Udo Lindenberg beim Plattenkaufen in Hamburg und bekam mitten in der Nacht einen Anruf von George Harrison, nicht, weil ich wirklich dabei war, sondern weil mir die Leidenschaft, mit der man mir diese Geschichten erzählte, keine andere Wahl ließ. Besonders gerne lasse ich mir von Saalbauten berichten, von sechstausend Leuten, die an jedem Samstag zu Beat-Happenings nach Recklinghausen oder Gelsenkirchen pilgerten, von Halbstarken, von Vollidioten und dem ganzen Rest. 1965 war ein Jahr, in dem vielleicht zehn Platten mit Rockmusik erschienen, ein überschaubarer Rahmen für die Frage alle Fragen: STONES oder BEATLES?
Man berichtete mir, daß diese Entscheidung von so essentieller Bedeutung war, daß Freundschaften daran zerbrachen. Trotz allem war es immer noch einfacher, sich auf eine dieser beiden Seiten zu schlagen als die PRETTY THINGS gutzufinden, denn die waren wirklich der allerletzte Dreck. Das Buch, das bei mir im Regal steht, rühmt sie mit den Worten "ihr Stil war rauh und mitreißend, und sie waren lauter als Bo Diddley, die ANIMALS und die ROLLING STONES, und sie waren unsagbar häßlich."
Mehr muß man nicht wissen. Uninteressant, daß PRETTY THINGS-Gitarrist Dick Taylor in der Urbesetzung der ROLLING STONES stand, daß sie mit "S.F. Sorrow" die erste Rock-Oper überhaupt geschrieben haben und ihre frühen Werke soviel Substanz und Kraft besitzen, daß sie heute Klassiker sind. Spannender hingegen ist die Tatsache, daß sie sich 1999 als rüstige Mitt-Fünfziger tatsächlich noch trauten, ein neues Album veröffentlichen, ihre Körper in piefige Banker-Anzüge zu stecken, ihre ausgemergelten Gesichter mit Sonnenbrillen zu tapezieren und sie dutzendfach im Booklet abzudrucken. Die Bildunterschriften nennen die PRETTY THINGS "Blokes", die Texte triefen vor Selbstironie und Sarkasmus und präsentieren genau die Realität, die einer Band übrig bleibt, die immer in der zweiten Reihe stand.
Man sollte sich einmal die Mühe machen, das Booklet zu lesen. Es verrät in einem Nebensatz, daß das Album ursprünglich "Fuck Oasis And Fuck You" heißen sollte und es gibt leider nicht viele Autoren, denen das eine Erwähnung wert gewesen war. Aber wer weiß, vielleicht steckte sogar mehr dahinter als senile Albernheit und vielleicht war es auch kein guter Schachzug, die wilden Jungs im letzten Moment dazu zu überreden, das Ding in "Rage Before Beauty" umzutaufen. Sei´s drum. Selbst wenn es "Best Of Cat Stevens" heißen würde, wäre es immer noch arschgeiler Rock. Ungefähr zur selben Zeit, als sich die Welt an dieser Platte vorbeidrehte, sah ich die PRETTY THINGS im Fernsehen. Der Rockpalast hatte sie im Rahmen eines Festivals auf die jungen Leute losgelassen und zeigte das Ergebnis ein paar Wochen später im Nachtprogramm. Ich kann nicht abstreiten, das mich das, was ich da sah, sehr erregte. Die PRETTY THINGS. Wow! Es gab nichts, was in diesem Moment prettyger und thingiger sein konnte als diese alten Knochen. Ihre Gesichter sahen aus wie Luftaufnahmen vom Grand Canyon. Ich brauchte mich nicht sonderlich anzustrengen, um in den zerfurchten, vernarbten Landschaften sämtliche Geschichten zu lesen, die der Rock´n´Roll zu bieten hat. Schön waren sie ja nie, aber jetzt schienen sie es drauf anzulegen, dem Begriff Häßlichkeit ein paar neue Superlative zu schenken. In ihren Anzügen sahen sie aus wie Lateinlehrer in Erich Kästner-Filmen, ein fliegendes Altersheim aus einer anderen Zeit, echt gigantisch, echt häßlich, und mit einer Konsequenz, die sich heute keiner mehr freiwillig zutrauen mag. So richtig bewegen konnten sie sich auch nicht mehr. Von wegen "I´m A Roadrunner, Honey"! Ich denke, sie waren froh, daß sie nicht umfielen. Wo ihre Blicke frühert nach Sex! schrien, schreien sie jetzt nach Tee!, aber so ist das eben, wenn man älter wird.
Gehören Sie zu den Leuten, die es den PUHDYS übelnehmen, daß sie bis zur "Rockerrente" rocken? Na schön, wie gefällt Ihnen das: Die ROLLING STONES, CHEAP TRICK, GOLDEN EARRING, Iggy Pop, Charlie Harper, Sonny Vincent, Neil Young - es gibt sie noch und sie hören einfach nicht auf, auch wenn es gemeinhin als uncool gilt, sich mit über 30 noch auf die Bühne zu trauen. Sicher, man kann sich den Scheiß zum Großteil nicht mehr anhören, aber das ist kein Grund, den gängigen Vorurteilen zu erliegen, denn es geht um den Respekt, den man diesen Jungs entgegenbringen sollte. Und wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß es allen nur um´s Geld geht. Mich interessiert nicht, ob die Herren ihren Zenit bereits 1969 überschritten haben, mich interessiert, daß sie einfach nicht aufhören. Ich kann es nicht erklären - ich fühle mich diesen Menschen einfach verbunden, den ganzen alten Säcken, die wie ich unter Denkmalschutz stehen. Ich weiß, wie sie sich fühlen, denn ich fühle genauso. Wir sind alle 17, müssen Sie wissen, und mit 17 macht man noch Witze. Fuck Oasis And Fuck You. Ha! Großartig! Hätte glatt von mir sein können.
Wenn forever nicht allzu lange dauert, kann man forever young bleiben. Aber Sie können mir glauben - es ist ein komisches Gefühl, sich jugendlich frisch zu fühlen, wenn einem die Haare, die oben fehlen, unten aus der Nase wachsen.
Aber lassen wir das. Für den Fall, daß ich posthum mal berühmt werden sollte, habe ich noch ein paar Ansagen zu machen. Also, lieber Biograph, meine Jugendfotos, auf denen ich einigermaßen cool aussehe, befinden sich im Wandschrank in der untersten Schublade. Dort findest Du auch schmackhafte Lakritz-Pastillen und zwei große Aktenordner mit den Namen der Frauen, die ich gerne flachgelegt hätte. Ach, und schreib bitte, daß "Cries From The Midnight Circus" mein ewiges Lieblingslied war, ist und bleiben wird.
"Cries From The Midnight Circus" ist der letzte Song auf der ersten Seite des Albums "Parachute" von den PRETTY THINGS, einer frühreifen Großtat, die mal endlich jemand ausführlich würdigen sollte.

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