SHIFTY SHERIFFS
MADMAN´S PARADISE
(BRD 1972)
Vielleicht war es die klassische Reizüberflutung, vielleicht waren mir schöne Frauen auch einfach zu häßlich, jedenfalls begann ich mich irgendwann in Gebäude zu verlieben. Die erste große Romanze hatte ich mit dem Hauptbahnhof in Braunschweig. Es war gleich was Festes. Die Beziehung hielt vier Jahre, war eine intensive und leidenschaftliche erotische Wundertüte, blieb aber kinderlos. Und es war Liebe auf den ersten Blick, das können Sie mir glauben.
Es begann im Winter 2001. Mein Bruder, der seit kurzem im Braunschweig wohnte, lud zu seinem traditionellen Weihnachtsmeeting, das diesmal im Februar stattfinden sollte und zu dem die Duisburger Blase komplett eingeladen war. Wir fuhren mit dem Zug, nichtsahnend, welch visuelles Spektakel uns da noch blühen sollte. Ich werde diesen ersten Gang von den Gleisen zum Hauptausgang niemals mehr vergessen. Wir verließen die Gleisunterführung und mit jedem Schritt wurde das Licht fahler, bis sich plötzlich die riesige Bahnhofshalle strack im Halbdunkel vor uns aufblähte. Das mächtige Rechteck war auf einer Seite komplett verglast und wir starrten durch drei Millionen Fenster in grauen Nieselschnee. Die übrigen Wände präsentierten sich weiß getüncht, aufgelockert mit gelegentlichen Showeffekten wie zum Beispiel einer Uhr. Das hallenartige Etwas weckte Muttergefühle und regte die Phantasie an. Wenn man die Augen schloß und sich das Klacken von hochhackigen Damenschuhen vorstellte, konnte man Margot Honecker, grob gekörnt und leicht verwackelt, vorbeilaufen sehen. Wenn man die Augen wieder aufriss, sah man allerdings ein paar Dutzend Normalos, die sich im weiträumigen Kühlschrank tummelten und der Ästhetik dieses Foyers offensichtlich keine große Beachtung schenkten. Ebenerdig, links und rechts der staunenden Duisburger Touristengruppe ein bißchen Kleingewerbe, keine Industrie. Geschäfte boten so sympathische Produkte wie Zeitungen, Blumen und Streuselkuchen an, in der Luft lag das Aroma von Döner und Donuts und über allem thronte eine schräge Decke aus schwarz und weiß lackierten schlanken Holzlamellen.
Bei Gott, es fiel schwer, diesen Tempel wieder zu verlassen. Durch eine Schwingtür durchschritt man die gläserne Fassade, eine Front, die so groß schien wie fünfzehn Sechzehnmeterräume. Ein wahrhaft mystischer Moment.
Dann standen wir auf dem Vorplatz und starrten direkt auf sechs häßliche Hochhäuser. Wir tippelten ein paar Meter weiter, bis ich mich nochmals umdrehte und sofort erstarrte. Ich konnte nicht fassen, was ich da sah: Oberhalb der durchsichtigen Wand erstreckte sich ein weiteres Rechteck in die Höhe, hinauf zu den Sternen, hinauf zu den Göttern, unglaublich kess. Diese steinerne Giga-Schachtel schien mit seiner blassen, beigegekachelten Pastellverschalung den direkten Weg in die DDR zu kennen. Ich war völlig weg. Und als ob das alles nicht reichte, um visuell einen geblasen zu bekommen, befand sich an der Spitze dieses riesigen Beton-Radiergummis eine zeitlos schöne, schlichte Uhr mit römischem Zifferblatt auf lindgrünem Grund. Auf dem Ding sah 13 Uhr 40 aus wie ein Ensemble aus überdimensionierten Sanitärartikeln, in dem zwei Mega-Urinsteine die Zeiger bildeten. Irgendwie ein perfekter Abschluss.
Es gab keinen Unterschied zwischen diesem Bahnhof und Shania Twain mit Schokolade am Mund. Man mochte ihn stundenlang anglotzen.
Das wollte ich auch unbedingt so beibehalten, wenn ich wieder in Duisburg sein würde. Ich mußte unbedingt eine Postkarte haben, die dieses gigantischen Gebäude zeigt. Ich bin leider nicht der Typ, der selber fotografiert, wissen Sie, stattdessen renne ich lieber eine Woche lang durch Schreibwarengeschäfte, Antiquariate und Touristikbüros und lasse mich verhöhnen. Natürlich ohne Erfolg. Was für eine Perversion! Während sie in anderen Orten ihre häßlichen Einkaufszentren und Fußgängerzonen schönreden müssen, hält es die Stadt Braunschweig mit ihren verbündeten Imageberatern offenbar nicht für nötig, sich zu den reell existierenden Augenweiden zu bekennen. Stattdessen hat man an jeder Ecke Ampeln gebaut, deren Rotphase für Fußgänger länger ist als das Leben einer Katze.
Hilfesuchend wandte ich mich an meinen Bruder, einem großen Sammler, der stets alle Tassen im Schrank hat. Bei einer guten Flasche Bier gab er mir das Buch "Bahnhofsguide Deutschland 95/96", das immerhin eine Innenansicht gewährte und sich einen blöden Kommentar über mein Schätzchen nicht verkneiden konnte: Das nüchterne, schnörkellose Verwaltungs- und Empfangsgebäude gleicht einer großen, länglichen Kiste, die man sich beispielsweise auch als Warenhausbau der 50er Jahre vorstellen könnte.
Was natürlich kompletter Blödsinn ist, denn erstens ist der Bau von 1960 und zweitens erlaubte die Verlegung des Bahnhofs die großzügige Neuplanung auch des Empfangsgebäudes, das aus städtebaulichen Gründen als platzabschliessende Wandscheibe entworfen wurde (aus "Neue Bahnhöfe - Empfangsgebäude der Deutschen Bundesbahn 1948 - 1973" von Martin Schack).
Ich will gar nicht bestreiten, daß Braunschweig innerhalb seines Stadtkerns eine Menge Sehenswürdigkeiten zu bieten hat, daß man hier ein paar schöne Tage verbringen kann, aber echte Liebe ist das nicht. Eher oberflächliches Geplänkel, wenn auch mit Niveau. Vielleicht ist Braunschweig unter den Städten der optimale One-Night-Stand, wer weiß das schon außer ich? Ich fuhr also wieder nach Hause und kam ein-, zweimal im Jahr wieder, um meinen Bruder zu besuchen und die Distanzbeziehung zum Bahnhof nicht einschlafen zu lassen. Es brach mir jedesmal das Herz, wenn ich wieder Abschied nehmen mußte, allein, verliebt und ohne Chance, jemals ein Bild von meinem Purzel in der Brieftasche tragen zu können. Das war schon traurig, echt. Ich kann mir vorstellen, daß man diese Love-Story im Rahmen der Rosamunde Pilcher-Reihe für das ZDF einmal verfilmen wird, denn es gab tatsächlich ein Happy End. Als ich schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, fand ich auf einem Trödelmarkt in Düsseldorf tatsächlich das gesuchte Objekt und einen Dummen, der den Schatz für eine Mark verkaufen wollte. Seitdem hängt die Karte bei mir eingerahmt im Arbeitszimmer und immer, wenn mein Blick das Foto kreuzt, bekomme ich Gefühle, die....naja, das können Sie sich ja wohl denken.
Obwohl die SHIFTY SHERIFFS ebenso wie besagter Hauptbahnhof aus Braunschweig stammen, ist deren CD "Madman´s Paradise" eine kulturelle Begegnung ganz anderer Art. Auf einer Skala von minus hundert bis plus tausend liegen alle Emotionen, die diese Platte auslöst, exakt bei null. Die Songs sind weder gut, noch scheiße und die Musiker sind weder Könner, noch Dilettanten. Die Musik ist weder Fisch noch Fleisch, und wenn man schonmal soweit ist, daß man meint, Rockmusik mit Essen vergleichen zu müssen, sind das hier lauwarme Spiralnudeln mit Tomatensoße. Ich bin mir sicher, daß diese CD die unspektakulärste Platte der Welt ist, ich weiß, daß man sich an keinen Song dieses Albums jemals erinnern wird, aber ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen, warum wir im Herbst 92 ein Interview mit den SHIFTY SHERIFFS gemacht haben und nicht mit SOCIAL DISTORTION, die nach ihnen spielten.