JETHRO TULL
THICK AS A BRICK
(GB 1972)

Nachdem ich nun mehrfach von Leuten gefragt worden bin, was eigentlich schief gelaufen ist in meiner Jugend, habe ich heute morgen endlich eine heiße Spur entdeckt. Sie führt von England nach Nordrhein-Westfalen und endet in meinem Plattenschrank.
Ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, daß das Cover von "This Was" damals einen großen Eindruck auf mich gemacht hatte und ich den Style irgendwie scharf fand. "This Was" war das erste Album von JETHRO TULL und zeigte die Band als vergammelte Senioren.
Rund fünfzehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung fand ich die Platte in einem Fachgeschäft, wo sie vermutlich rund fünfzehn Jahre gestanden und auf mich gewartet hatte.
Es war Anfang der Achtziger, eine Zeit, die tatsächlich etwas auf den Weg brachte, was den Kids heute noch gefällt: Die nutzlose Rudelbildung. Mit ein paar Gleichgesinnten durch Raves zu zucken, sich einzubilden, daß man auf eisernen Jungfrauen das Mittelalter keuchen hören kann, der größte Checker mit dem längsten Schwanz zu sein, sich ein paar Wochen als Punk das Shirt vollzukotzen oder nie mehr im Stehen zu pinkeln macht sicher viel Spaß, Teil einer Jugendkultur zu sein heißt aber vor allen Dingen, ihre Grenzen einzuhalten und das Leben permanent nach Ritualen auszurichten. Schlimm genug, einer bestimmten Bewegung anzugehören (wobei die Alternative natürlich nicht lauten kann, sich zu gar keiner Szene zu bekennen, sondern nur zu mehreren gleichzeitig), noch schlimmer, daß man sich dafür stylen muß. Ich hatte damals die Auswahl zwischen Punker, Popper und Teds, aber mit Spray an den Haaren rummachen, das T-Shirt extra zu waschen oder zu versauen, also nee, ich weiß nicht, das wäre irgendwie alles in Arbeit ausgeartet.
Der Look von "This Was" war konsequent anders. Man mußte gar nichts tun.
Das führte dazu, daß ich mich nicht mehr kämmte, im Gesicht den Flaum sprießen ließ und zu kaputten Jeanshosen Strickjacken anzog und mir nichts dabei dachte, außer, daß ich wahrscheinlich ziemlich gut aussehe.
Mit Begeisterung trug ich die erlesenen Stücke aus der Altkleidersammlung meiner älteren Verwandten und mit nicht minder großem Aktivismus fischte ich die Sachen aus der Mülltonne, wo meine Mutter sie immer wieder hineinwarf. Eine zeitlang war ich im Besitz des Mantels von Konrad Adenauer. Allerdings war mein Exemplar von Onkel Erich. Meine Mutter nannte den Mantel etwas respektlos Gewitterwolkenverteiler, wahrscheinlich wußte sie nicht, daß in jede Seitentasche eine 2-Liter-Flasche Lambrusco paßte.
Dazu trug ich eine Schlägermütze im Stile der Kommunisten zu Zeiten der Weimarer Republik und dann fuhren wir in die Nacht und machten auf dem Friedhof erstmal eine Fotosession.
Spätestens da waren Hopfen und Malz verloren, was uns aber egal war, da wir genau wußten, wo sie sich versteckt hatten.
Natürlich hörten wir auch Punk, na klar, es waren ja unsere wilden Jahre, aber eben auch viel JETHRO TULL und anderen Mist.
Nun, was kann ich zu meiner Verteidigung sagen?
Ehrlich gesagt: gar nichts. Wenn wir damals nicht soviel JETHRO TULL gehört hätten, hätten wir Zigarettenautomaten geknackt und in den Linienbus geschissen.
Irgendwie befriedigte das Geflöte unsere romantische Ader. Wir spürten einfach, daß Lieder aus dem Wald viel mit unserer eigenen Situation zu tun hatten.
Noch mehr aber zählt, daß uns JETHRO TULL speziell mit ihren ersten beiden, sehr bluesigen Platten davor bewahrten, völlig abzuheben und eine berufliche Karriere anzustreben. Die Musik paßte hervorragend zu Wein, Käse und Rauchkraut. Das entsprach im Groben unserer Vorstellung vom Sinn des Lebens. Da spielte es keine große Rolle mehr, daß in dem Sommer, in dem wir JETHRO TULL entdeckten, ihre große Zeit bereits abgelaufen war.
In guten Rock-Lexikas kann man lesen, woher JETHRO TULL ihren seltsamen Namen haben und warum sie nicht, wie andere Leute auch, URIAH HEEP heißen. Jethro Tull war ein Bauer, der im Jahre 1731 ein Buch mit dem Titel "Wie man Pferde richtig beschlägt" geschrieben hat.
Der Name hört sich komisch an, oder? Er hat keinen Klang. Man denkt an Stallmief und Kuhscheiße. Jethro Tull ist ein guter Name für einen Bauern, aber nicht für eine Band. Es ist nicht gut, wenn man anstatt an eine Rockgruppe an Landwirtschaft denkt.
Wenn ich mir allerdings ein paar neuzeitliche Namen betrachte, zum Beispiel Kreationen wie KANTE, KETTCAR, MILCH oder (kein Scherz:) ERDBEERTÖRTCHEN, denke ich an:
1) Volkshochschule
2) Grundkurs Deutsch
3) Ost-Rock.
Vielleicht sollten doch wieder mehr Leute Bücher über Pferde schreiben.
Begonnen haben JETHRO TULL als Blues Band. Allerdings hatten die Musiker in ihrer Jugend vornehmlich Jazz und Klassik gehört, was man ihren verqueren Nummern deutlich anmerkte.
Bevor sie im Jahre 1972 mit "Thick As A Brick" ihren Zenit erklommen, hatten sie bereits mit "This Was", "Stand Up" und "Aqualung" drei Klassiker fabriziert. Das interessante an "Thick As A Brick" (was frei übersetzt übrigens "blöd wie Schifferscheiße" bedeutet) ist zum einen, daß die Platte in einer Zeitung steckt und man anhand der luxuriösen Wortwahl auf der großen, mehrseitigen Verpackung schnell feststellt, was das Schul-Englisch wert ist.
Mein Exemplar würde auseinanderfallen, wenn ich es durchblätterte, aber ich kann mich erinnern, daß es sich aus vielen kuriosen Meldungen zusammensetzte. Hinzu kommt, daß die Platte nur einen Song beinhaltet, über den auch noch das Gerücht gestreut wurde, daß ein 12-jähriger den Text dazu geschrieben hätte. Ich habe zwar keine Ahnung von Technik und Sex, aber ich weiß, was dabei herauskommt, wenn 12-jährige Texte verfassen, die in Zeitungen abgedruckt werden.
Meine Zeitung hieß "Der Tonksche Kurier" und war der unabhängige und überparteiliche Schrei nach Liebe. Mit Schlagzeilen wie Mutter Tonk will nicht mehr spülen! oder Bloß kein Obst zu Weihnachten! überstieg es den Horizont eines schnöden Boulevard-Magazins, zumal auch Sportmeldungen (Fußball-Krimi: Uhlenbroicher Weg schlägt Saarner Straße 17:11) und sogar Wirtschafts-News (Börse: Peter 1,35 DM, Thomas 0,20 DM) enthalten waren.
Ich machte zwei, drei Ausgaben, bis ich merkte, daß das alles Murks ist. Hm. Auf der anderen Seite ist Murks immer noch die beste Begründung dafür, warum jeder Haushalt per Gesetz dazu verpflichtet werden sollte, sein eigenes Fanzine herauszubringen.
Etwas Gutes hatte das Ganze. Obwohl meine Zeitungen so gut wie unbeachtet blieben, zeigten sie deutlich, was für ein Mega-Talent ich bin. Ich brauchte nur eine musikalische Initialzündung, etwas, was mir im Jahre 1978 die Orientierung erleichtern und den Glauben an Rock´n´Roll zurückbringen würde. Die aufgeblasenen Superstars des Bombast-Rock wie GENESIS, PINK FLOYD oder YES feierten mit ellenlangen Kompositionen nur sich selbst und hatten mit unserer Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Eine ganze Generation schrie nach Erlösung. Und die Erlösung kam. Aus England. Eine Riesenwelle rollte über unser Land, das Establishment reagierte geschockt und danach war nichts mehr wie vorher. Es war nur eine LP, aber sie schlug ein wie eine Bombe:
"Watch" von MANFRED MANN´S EARTHBAND! Songs wie "Mighty Quinn" oder "Davy´s On The Road Again" brachten das Aufbegehren einer verlorenen Jugend, die Schande eklatanter, sozialer Mißstände und Suche nach den wahren Werten auf den Punkt und animierte mich dazu, fortan nur noch über Musik zu schreiben. Nachdem ich mir wochenlang einen coolen Namen für das Baby überlegt und schließlich auch gefunden hatte, rief ich endlich die "Rock-Zeitung" in´s Leben und zeigte in 34 Ausgaben, wie seriöser Rock-Journalismus funktioniert.
Natürlich lieferte ich die üblichen Standards (Liebesbriefe an Udo Lindenberg, Steve Hillage und Frank Zappa), aber über allem stand die Maxime, fortan keine Belanglosigkeiten mehr zu verbreiten. Deshalb gab es Szene-News (Sepp will sich demnächst einen Dreier-Stecker und Ventilator zulegen), Reviews von Platten der eigenen Band (Wenn ich sie nicht schon zehnmal hätte, würde ich sie mir noch fünfmal kaufen) und regelmäßige Blind-Dates mit meinem kuriosen Bekanntenkreis (...ah, das ist Melanie, ne? Der Name ist zwar Scheiße, aber die singt total gut).
Als mein seriöser Rock-Journalismus immer investigativer und unbequemer wurde, häuften sich die Gegendarstellungen, teils von Lesern (Hiermit möchte ich klarstellen, daß die von Ferdi S. in der letzten Rock-Zeitung aufgestellte Behauptung, ich sei ein Sting-Fan, unwahr ist), teils von mir selbst (Hiermit revidiere ich öffentlich, daß Mona drei Arschfalten hat. Als ich sie das letzte mal nackt gesehen habe, war ich schon ziemlich betrunken).
Schön. Falls es jetzt noch weiterer Beweise für die Redlichkeit dieser Publikation bedarf, sei gesagt, daß der Name JETHRO TULL dort niemals genannt wurde.

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