SOCIAL DISTORTION
WHITE LIGHT WHITE HEAT WHITE TRASH
(USA 1996)
Draußen spielte das Wetter verrückt. Es schien, als wollte die Sonne an einem einzigen Tag nachholen, was sie den ganzen Sommer lang versäumt hatte. Sie stand schon den ganzen Tag da oben und bewegte sich einfach nicht von der Stelle. Sie strahlte in mein Fenster, machte aus mein Zimmer eine gleißende Discokugel und frittierte die aschgrauen Gardinen in goldbrauner Butter.
Es war ein heller Oktobertag und ich hatte schon Mittags das erste Bier am Hals. Ich sah nichts Nachteiliges darin, den Tag mit ein paar Promille anzuheizen, zumal die Zukunft höchst überschaubar war. Wir würden noch was essen, weiter Bier trinken und gegen fünf auf´s Konzert fahren. Das Konzert - der Gedanke daran machte mich völlig kirre. Ich kannte die Band, ihre Historie und ihre letzte Platte und mir war klar, daß ich explodiere, wenn wir beide im richtigen Moment zusammentreffen.
Ich öffnete das nächste Bier. Der Tag würde mir nichts weiter abfordern als einen stummen Orgasmus. Ein Freitag ganz nach meinem Geschmack.
Ich stand vor dem Kleiderschrank und bohrte mir John Lennon an die Jeansjacke, als es an der Tür schellte.
Kampmann kam polternd die Treppe herauf, ging scheppernd durch die Tür und löste klirrend sein Gepäck vom Rücken. In dem Rucksack befanden sich ungefähr vierhundert Flaschen. Er öffnete drei von ihnen, stellte sie auf den Tisch, zündete sich eine Zigarette an und sagte "na, dann zeig mal."
Ich steckte das Video in den Schlitz und drückte auf Start. Man sah einen tattoowierten, schmierigen Amerikaner, der einen dünnen Zigarillo raucht und die blöden Fragen der Schlunze vom Musik-Kanal mit stoischer Ruhe beantwortet. Dann folgen zwei, drei Clips, in denen der Tattoowierte grimmig in die Kamera schaut, während er singt und zornig auf seine Gitarre eindrischt, während er nicht singt. Ein Boxkampf in schwarzweiß, zwei Cowboystiefel im Staub, vier Minuten vom Universum. Musikvideos.
Wir starrten gebannt auf den Fernseher und wußten in diesem Moment, daß wir nie mehr etwas anderes hören wollten.
Die Musik, die über die G-Punkte unserer Seelen fegte, war von SOCIAL DISTORTION und der tattoowierte Mann, der gerade ein paar nette Kommentare über das Punk-Revival abgab, war Mike Ness.
"Schade, daß Mike Ness so ein arroganter Wichser ist" sagte Kampmann, während er die nächste Flasche öffnete.
"Du spinnst" sagte ich und meinte damit "vermutlich hast du Recht". Das Kramen in Erinnerungen, SOCIAL DISTORTION 92 live in Essen, als es Mike Ness darauf anlegte, der Rockstar vom anderen Stern zu sein. Im Gegensatz zu anderen Astronauten wie Bowie, Alice Cooper, GWAR und KISS war die Performance von Mike Ness allerdings völlig humorlos, was ihm einige groteske Züge verlieh, ihn unnahbar und kühl erscheinen ließ, sodaß man eigentlich nicht anders konnte, als ihn für einen arroganten Wichser zu halten.
Scheißegal. Ich wollte ihn ja nicht heiraten. Die Hauptsache war, daß es ihn überhaupt gab und daß er wieder da war. Nach vier Jahren Funkstille war erst in diesen Tagen mit "White Light White Heat White Trash" endlich die neue Platte erschienen. Der Sound ist definitiv anders als auf den letzten Alben. Statt komprimierter Wucht dominiert atmosphärisches Kino, welches den überladenen Mehrspurexzessen ein weitläufiges Terrain schenkt, transparent bleibt, obwohl es hier und da mit zuviel Hall überzuckert wurde. Die Country-Einflüsse sind noch da, wenngleich sie der dröhnende Rock in die zweite Reihe drängt. Cold Feelings - nein danke. Die Platte ist aus Liebe und Hass gegossen und lebt von ihrer Energie, dem Rausch und einem wie von Sinnen trommelnden Chuck Biscuits.
Ich brauchte eine Zeit, bis ich mich an das emotionale Inferno gewöhnt hatte. "Dear Lover", "Don´t Drag Me Down" - ich sank immer tiefer in den Sessel. Bei "I Was Wrong" zeigte mein Körper erste Reaktionen. Ich hörte "I Was Wrong" zehnmal hintereinander. Ich hörte" I Was Wrong" und konnte es einfach nicht fassen.
Die Platte bestand aus purer Magie. Jeden normalen Menschen mußte sie verzaubern. Uns machte sie süchtig. Großer Respekt verwandelte sich in Fanatismus. Genaugenommen war es eine Pilgerfahrt, die uns nach Köln führte, wo SOCIAL DISTORTION an diesem Abend das erste Konzert nach jahrelanger Abwesenheit geben sollten.
Wir waren früh dran. Köln schlief noch. In den Straßen war es ruhig. Als wollte die Stadt vor dem historischen Ereignis noch einmal den Atem anhalten.
Vor dem Laden spielten ein paar Kids Hockey mit einer Coladose. Wir entdeckten eine Bank mit Panoramablick auf die Eingangstür, ein schönes Plätzchen Erde mit ein paar Büscheln Gras extra. Das Idyll ließ sich von der Abendsonne bescheinen und döste in Technicolor vor sich hin.
Auf der Bank saß ein seltsamer Vogel und nuckelte an seiner Bierflasche.
"Martin?"
Der Typ drehte seinen Kopf.
"Martin Pick aus Wuppertal?"
Shakehands. Schulterklopfen. Flaschenklirren. Die Welt ist ein Dorf.
"Und? Was machste so?"
Martin war just back from New York City. Es gab einiges zu erzählen.
"Warte mal, ich muß mal eben pissen."
Ich hatte gerade eine schöne Hecke im Visier, als sich die schwere Tür vom Stollwerck öffnete.
Ein kleiner Mann mit einem langen, häßlichen Mantel trat heraus, blieb stehen, steckte sich einen Zigarillo an und nahm einen tiefen Zug vom nackten Leben - die Kids, die vorbeifahrenden Autos, die Oma mit ihrem Pudel, die Freaks auf der Bank.
Unsere Unterhaltung versickerte im Nichts. Wir glotzten nur noch den Mann im Mantel an.
"Ob er das ist?"
"Das glaubst du doch wohl selber nicht."
"Sicher ist er das. Ich frag ihn mal, ob er Lust hat, zu uns zu kommen" sagte Mona und stakste auf den Fremden zu. Wie immer ging alles sehr schnell, zu schnell für meinen Geschmack. Vielleicht hätte ihr vorher jemand zeigen sollen, wie Mike Ness wirklich aussieht, aber dazu war es zu jetzt spät. Wir sahen vom blonden Blitz nur noch den Hintern.
Süße, kleine Mona. Es erstaunte mich immer wieder, wie sie jeder Intuition Taten folgen ließ, wie sie jede Möglichkeit, sich zu irren, kategorisch ausschloß und daß sie damit bislang noch kein einziges mal auf die Schnauze gefallen war. Vielleicht, weil sie die einzige war, die ein so deutsches Englisch mit einem so amerikanischem Akzent sprechen konnte.
Wir sahen, wie ihre Worte auf den Fremden einprasselten, wie sie durch Hände und Füße eine Bedeutung bekamen und was sie bewirkten, als Mona auf uns zeigte und dem Mann ein Lächeln über das Gesicht huschte. Die beiden kamen herüber. Wir starrten ihn an und vergaßen das Atmen. Scheiße, er war´s!
Mike Ness stellte sich vor und schüttelte jedem von uns die Hand. Ein höflicher Akt, dem ein weiterer höflicher Akt folgte ("klasse Platte, Mann!"), was mit dem nächsten höflichen Akt beantwortet wurde ("oh really? Thank you!"), bis das Gespräch in höflichen Akten zu versinken drohte.
"Bist du gern in Deutschland?"
Verdammt, wir verhielten uns wie verklemmte Oberprimaner beim Abschlussball!
"Deutsches Bier ist das beste."
Großer Gott, was taten wir da?
"Super Rock´n´Roll!"
Yeah. Müll und Sprache. Eine coole Basis. Mike mußte uns für die letzten Dorftrottel halten.
Im Gegenzug hielten wir Mike für einen der letzten großen Songwriter, die Rollenverteilung war also klar. Allerdings konnte unsere Unterhaltung etwas mehr Eleganz vertragen. Keine leichte Sache. Ich wollte nicht herumschleimen, ihm nicht auf die Schulter klopfen, so etwas kann ich einfach nicht, aber ich mußte ihm unbedingt sagen, was uns seine Lieder bedeuteten, irgendetwas in der Art danke, daß du sie geschrieben hast loswerden, denn unsere Liebe war aufrichtig und funktionierte auch ohne Backstagebier. Wir waren keine Pressefuzzis von der Gästeliste und wir bekamen auch kein Geld dafür. Wir waren Fans. Und zwar die größten. Es war mir wichtig, daß er das begreift.
"Weißt du, was passiert ist, als ich I Was Wrong zum ersten mal hörte, Mike? Ich habe geweint."
Und ihm nicht gesagt, daß mir das zuvor bei noch keinen anderen Song passiert ist. Mike spürte, daß ich auch eines von den armen Schweinen war, die nur quieken können, solange sie in dieser bekloppten Welt ihre Nischen finden. Er lächelte und erzählte, daß bei ihm Songs von Eddie Cochran und Filme von Russ Meyer ähnliche Gefühle erwecken und daß diese Gefühle ihn dazu bringen, alte Autos zu sammeln, Magazine mit Pin-Up-Girls aus den 40er Jahren und anderen Trash.
Von einem Moment auf den anderen war eine lebhafte Diskussion im Gange. Angeregt fachsimpelten wir über Styling und Ästhetik und darüber, wie wichtig es ist, mit coolem und essentiellem Stoff zu leben oder ihn zumindest zu kennen.
Er bemerkte meine Buttons an der Jacke, REZILLOS und John Lennon, Themen für eine weitere Viertelstunde.
White Light White Heat White Trash. Es war mir fast schon peinlich, noch einmal darüber zu sprechen, aber so erfuhr ich in einem Nebensatz, daß Mike für diese Platte vierzig Songs geschrieben hatte. Vierzig! Und elf sind drauf. Elf! Macht 29 Songs für die goldene Tonne. Daraus wären früher drei Platten entstanden. Die Anfänge: "Wir waren betrunkene Kinder, die im Studio rumhingen. Wir sahen die Leute fetter, älter und lahmarschiger werden. Also wurden wir schneller und härter."
In seinen Augen liegt kein Glanz, wenn er über die frühen SOCIAL DISTORTION spricht. Das ändert sich, wenn er über die Fünfziger Jahre redet. Anfangs hielt ich ihn für einen Nostalgiker, aber vermutlich ist Mike Ness nur ein Mann mit einem eigenen Stil. Den später tausende Leute kopierten, um auch einen eigenen Stil zu haben.
Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist daß er ein Gentleman ist, zurückhaltend, höflich und intelligent. Auch Kampmann hatte inzwischen begriffen, daß arrogante Wichser anders ticken.
Er sieht natürlich etwas verwegen aus. Ein bißchen Punkrock, ein bißchen Hinterhof, zwanzig Jahre, die ihm den Stray Cat Strut in die Haut ritzten. Der einzige Teil, der an ihm nicht tattoowiert ist, sind die Füße. Sagte er jedenfalls, bevor jemand seinen Namen rief.
"Sorry, ich muß zum Soundcheck. Kommt einfach nach dem Konzert backstage, dann können wir weiterquatschen."
Mike schob ab. Von hinten sah er aus wie ein Killer. Seine Stiefel tanzten durch den Staub, sein häßlicher Mantel wehte und am Rockzipfel klebte die Frau, die sich den Soundcheck nicht entgehen lassen wollte.
Wir blieben an der Bank, genossen die laue Luft und das warme Bier, als uns plötzlich ein Krachen aufschreckte. Der Soundcheck! So nannten es die Leute. In Wirklichkeit war es ein Tornado, der dumpf durch die Mauern fegte, gegen die Stahltür schlug und draußen an der Bank unser Bier in Vibration versetzte.
Wenig später, kurz nachdem der Spuk wieder vorbei war, kam Mona aus der Halle zurück, den Körper aufgeladen mit Elektrizität, kernsaniert mit fünftausend Volt, die ihr durch die Adern schossen. Sie zitterte noch ein wenig, ihre Haare hingen wild herab und sie trug das Lächeln der Ladies, die wissen, was Tango ist. Sie sah aus, als hätte sie eben den besten Sex ihres Lebens gehabt.
Euphorisch berichtete sie von einem Hammer-Sound, von schier unvorstellbarem Klangbombast, der vollen Dröhnung. Wir sollten uns schonmal auf das Konzert freuen.
Nach der beschissensten Vorband aller Zeiten begann irgendwann das Konzert, auf das wir vier Jahre gewartet hatten, weil es das Konzert aller Konzerte werden würde.
Sie eröffneten mit "Under My Thumb" und sahen hervorragend aus. Das Licht war klasse. Die Band war gut. Der Sound war Matsch.
SOCIAL DISTORTION in Köln. Alles in allem nette Freitagabendunterhaltung, aber nichts, wovon man später seinen Kindern erzählen wird. Wir verzichteten auf Backstagebier und Konversation und fuhren nach Hause.
Ein halbes Jahr später. SOCIAL DISTORTION in Frankfurt. Ein großartiges Konzert, ein phänomenaler Sound und das unbändige Verlangen, möglichst viele Kinder zu zeugen, um ihnen später einmal von diesem Konzert zu berichten. Nach dem Konzert trafen wir Mike in der Kneipe neben der Batschkapp. Wir verzichteten auf das Nachhausefahren und ließen uns von ihm ein Bier ausgeben.