VICKY LEANDROS
VICKY UND IHRE HITS
(BRD 1969)

Ihre Nase ist ein altgriechischer Glücksfall und zeigt den Catholic Übermensch mit all seinen geometrischen Vorzügen. Sie verläuft streng arithmetisch direkt in das Lustzentrum eines jeden guten Mannes und fließt mit einer leichten, kaum sichtbaren Erhebung der kess empor gestreckten Spitze entgegen. Von der Seite sieht das noch besser aus. Kein Sonnenaufgang kann so schön sein wie dieses Meisterwerk der Gen-Architektur. Nicht zu dick, nicht zu knubbelig, nicht zu kurz - sondern mit schlankem, aber ausdauerndem Strich auf die Habenseite der Natur gepinselt. Eine Nase, die danach schreit, aus ihr eine Religion zu machen.
Man spürt bereits beim Anblick, daß die Worte Grazie, Majästät und Nasalsex nur für diesen Riecher erfunden wurden und verneigt sich gern vor dem stolzen Schwan unter den Gänsen.
Und dann diese Haare! Voll verspielter Anmut rankt sich die dunkle Mähne wildrosengleich um das ebenmäßige Antlitz, bildet unzählige, delikate Prinzesslöckchen, um schließlich sanft auf die zarten, makellosen Schultern der Zierlichkeit höchstselbst zu fallen. Der Liebreiz dieser elfengleichen Silhouette entwickelt mit einer mediterranen, herben Süße ihren eigenen, magischen Zauber. Keine chinesische Porzellanfigur, kein Citroen DS Cabrio, keine kühle Flasche Pils in der sengenden Mittagshitze hält da noch mit.
Ich kann nicht verstehen, daß man darauf nicht voll abfährt.
Und dann diese Stimme! Da geh ich dran kaputt! Da wackelt mir die Brust! Da krieg ich Schaum vor´m Mund!
Wer jemals am eigenen Leib erfahren hat, was dieses überparteiliche Zentralorgan in seinem Körper für Reaktionen auslöst, verfällt der atombetriebenen Schmetterstimme. Bedingungslos. Für immer.
Bei mir fing es 72 an, als Vicky mit Apres Toi für Luxemburg den Grand Prix gewann. Schon als kleiner Stöpsel war ich Kraft meiner angeborenen, musikalischen Intelligenz in der Lage, Vicky mindestens so gut zu finden wie Fix & Foxi, Himbeerdrops und Wassereis. Ihre Nachfolgehits Theo, wir fahr´n nach Lodz und Die Bouzouki klang durch die Sommernacht hielten die junge Liebe auf heißer Flamme, da die Chanteuse immer noch wie eine Göttin schrie, krähte und mit Inbrunst die Möbel zersang. Langsam kristallisierte sich heraus, wieso Vicky völlig zurecht auf dem Olymp thronte, während ihre Arbeitskolleginnen Ingrid Peters, Mary Roos oder Katja Ebstein noch im dunklen Korridor der Zweitklassigkeit herumkreuchten: Es sind bestimmte Frequenzen in ihrer mächtigen Stimme, die sie lustbringend einsetzt wie einen Zahnarztbohrer, der nicht wehtut. Töne, die die Luft zerschneiden wie ein Bunsenbrenner gute dänische Butter, stilvoll, rustikal und kraftvoll. Gesungen mit der doppelten Portion Melancholie, die ihre griechische, verletzbare Seele problemlos hergibt und doch gleichermaßen stolz, würdevoll und -da sie ja "Musik und Tanz, und etwas Eleganz" braucht- auch formvollendet in nicht enden wollender Schönheit. Man höre nur To Fegari Inekokkino von ihrer letzten, wirklich guten Platte Mein Lied für Dich von 73 und weiß augenblicklich, wie schön das Leben ist, wenn man die richtigen Schallplatten hört.
Begonnen hatte Vicky bereits in jungen Jahren unter der Fuchtel ihres Vaters Leo, einem erfolgreichen Sänger und Produzenten, der unter anderem auch für den Erfolg von Wurzelsepp Demis Roussos maßgeblich verantwortlich war. Bereits als 13-jährige (!) nahm die als Vassiliki Papathanassiou auf Korfu geborene Vicky im Jahre 1965 ihre erste Nummer auf. Messer, Gabel, Schere, Licht ist ein unglaublicher Beat-Smasher und das einzige Lied, bei dem ihre Stimme noch ein wenig wackelt wie nach dem ersten Zungenkuss. Natürlich ist diese Pogonummer auch auf der frühen Compilation Vicky und ihre Hits enthalten, einem Sampler aus der Zeit, als Vicky noch keinen Nachnamen hatte. Diese Platte ist einfach wunderschön. Man kann sie je einmal nach rechts und links aufklappen und sich an dreizehn Fotos erfreuen, die den Teenager in modischem Fummel zeigen. Man macht keinen Fehler, wenn man dabei Erdnüsse ißt. In Ruhe betrachtet wird der junge Star schnell zur guten Freundin, einem fröhlichen, lebhaften Mädchen, dem weder Karomuster noch Wollpullover wirklich etwas anhaben können. Man ist ein bißchen verliebt und ahnt noch nichts von der brachialen, urwüchsigen Schönheit, die von den meisten der hier versammelten zwölf Songs ausgeht.
Als ich die Platte zum erstenmal hörte, war es vier Uhr nachts. Ich hing vollgepumpt mit Ratiopharm am Küchentisch und überlegte mir eine Selbstmordvariante, die meinem Typ entspricht. Ich hatte seit drei Monaten höllische Untergesichtsschmerzen, die von einem asozialen Weisheitszahn ausgingen und mußte befürchten, daß der Zahnarztbesuch inzwischen unumgänglich war. Auf dem Fußboden lag ein Stapel Second-Hand-LPs, die ich in der Woche zuvor bestellt hatte, um meine Wunden zu kühlen. Die Zeit schien nun reif für dieses Vicky-Album, von dem ich viel erwartete und alles bekam. Nach den ersten Takten vom Opener Karussel d´amour öffnete ich das Fenster, stierte in die tiefschwarze Nacht und erlebte zusammen mit diesem Song, den ich mir gleich viermal hintereinander gab, den Sonnenaufgang über den Mülheimer Bergen. Die frische Luft, der gute Kaffee und ein paar gesunde Selbstgedrehte bildeten das perfekte Ambiente, in dem sich Vicky mit ihren traurigen Manifesten der Liebe akustisch austobte. Ich zitterte am ganzen Leib. Mein Herz war offen wie ein Scheunentor und ließ es zu, daß all diese Lieder meine Seele umgraben konnten. Ich vergoß Tränen der tiefsten Rührung und massierte meine Gänsehaut, während ein Schauer nach dem anderen über meinen Körper kroch. Es war wie Sex mit 15. Unbekümmert, ehrlich, rein und raus.
Nach dieser Nacht war ich ein anderer Mensch und machte wenig später einen Termin in der Zahnklinik Homberg, wo sie den schmerzenden Lump zusammen mit zwei anderen faulen Gesellen operativ entfernten. Danach konnte ich guten Gewissens mitsingen, wenn es mal wieder Nie mehr scheint mir die Sonne so hell hieß. Vicky und ihre tollen Lieder aus der Steinzeit des Pop hatten mir unmißverständlich klargemacht, daß das Leben gelegentlich auch für Spacken wie mich ein paar sonnige Momente kredenzt. Diesmal wollte ich dankbar sein und besuchte Frau Leandros in der Essener Grugahalle, wo sie im Oktober 97 mit ihrem aktuellen Album Gefühle gastierte. Die 45 Mark für den billigsten Platz hinten bei den Exil-Albanern gab ich gern. Immer noch besser, als das Geld in den Puff zu tragen. Als sie dann auf die Bühne kam, war ich doch angenehm überrascht. Ihre Figur war, trotz dreifacher Mutterschäden, immer noch so unglaublich zierlich und aus gläsernem Marmor gegossen, daß man nur hoffen konnte, die Frau habe keine schlimme Krankheit. Noch beeindruckender aber war ihre eigene Art, die 15 Meter vom linken zum rechten Bühnenrand zurückzulegen. In kleinen, anmutigen Schrittchen, die so enge Kleider nunmal grad noch zulassen und seitlich dem Publikum zugewandt, fuhr sie sich würdevoll selbst in die Parade. Dazu servierte sie mit ihren Ärmchen weit ausholende Bewegungen aus der Welt von Vorgestern, wo derartige Windmühlenflügel in Verbindung mit entsprechender Flatterkleidung noch für ´ne ordentliche Morgenlatte sorgten. Es tat gut, mal wieder einen Menschen zu sehen, der seine stolze Nase keck in den Wind hält und nicht wie der letzte Hänger durch die Gegend schlurft.
Leider macht Vicky seit 25 Jahren nur noch gefühlsarmen Schrott, was für eine Schlagersängerin ihrer Klasse aber nicht so wichtig ist, da es sich ja, wie allgemein bekannt sein dürfte, um Vicky Leandros handelt. Außerdem hat sie von 65 bis 73 eine ordentliche Arbeit abgeliefert, bei der das Jagen und Sammeln schon teuer genug ist.

|| nach oben