VAMPYRE STATE BUILDING
A NIGHT AT THE VAMPYRE A GO-GO
(BRD 1997)
Wenn es musikhistorisch stimmt, daß aus Berlin immer nur Junkie-Rock kommt, Hamburger stets intellektuell verquasten Blödsinn von sich geben und Düsseldorfer zur Abstraktion neigen, dann war Duisburg sicher Punkrock-City. Was bedeutet, daß man sich hier im Laufe der Jahre einen eigenen Lifestyle zusammengeschustert hat, den man vielleicht am ehesten mit dem altrömischen Brot und Spiele vergleichen kann, wenn man Brot durch Bier ersetzt und Cäsar durch Sid Vicious.
Die Szene hier war sehr aktiv im Totschlagen von Zeit. Wirklich jeder spielte in mindestens drei Bands, gab ein Fanzine heraus oder betrieb ein kleines Label, aber das reichte gerade mal bis Donnerstags. Für die Wochenenden gab es daher ein ausgeklügeltes Kultur- und Freizeitprogramm, das entweder aus Rumhängen und Saufen bestand, oder aber aus Rumhängen und Saufen und Konzertbesuch. Schön und gut, aber ich dachte mir, daß etwas Abwechslung da sicher nicht schaden könnte und versuchte, ein Freestyle-Punker-Golf-Turnier am Rheinufer zu organisieren, aber nur die wenigsten von uns hatten Bock auf diese Snob-Scheiße.
Sie können sich sicher vorstellen, daß ich doch etwas verwundert war, als ich erfuhr, daß Koschek ein Tischtennis-Turnier veranstalten würde, bei dem im Vorfeld von Schlägern und Bällen die Rede war und nicht von Latten und Bierdosen.
Zu der geschlossenen Veranstaltung hatte er den ganzen bekloppten Haufen eingeladen, der auch pünktlich um 14 Uhr nach und nach eintrudelte. Wir mußten runter in den Keller des Studentenwohnheims, wofür wir eine halbe Stunde benötigten. Natürlich waren an diesem Samstagnachmittag alle Türen im Keller verschlossen und natürlich ist sowas echt ein unvorhergesehenes Ereignis, aber nachdem wir wieder hochstiefelten und ordentlich Radau schlugen, erbarmte sich ein Mieter mit Schlüsseln, uns aufzuschließen. Wieder mußten wir durch die kilometerweiten Katakomben des Wohnbunkers, bis wir endlich im sogenannten Tischtennisraum ankamen. Dort widmeten wir uns fortan der Vernichtung der mitgebrachten Bierdosen. Wenig später kamen auch Abel und Irle hereingeschneit. Sie trugen Jogginganzüge. War wohl besser so. Ich hielt mich mit dem Bier etwas zurück, schließlich wollte ich unbedingt Koschek putzen, diesen jugendlichen Schöngeist, der mich und meine Wertigkeit mit "Scheiße", "Wichse" und "Null" realistisch einzuschätzen versuchte.
Was dann aber tatsächlich um drei Uhr nachmittags durch den Kellerraum kreuchte, konnte mir nicht im geringsten imponieren. Koschek war hackevoll und weder in der Lage, sich vernünftig zu artikulieren, geschweige denn einen Ball so zu treffen, daß er nicht in Papenburg landet. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß diese Kreatur auf meine gefürchteten Schnibbelbälle reagiert, ohne sich das Ohr an der Wand aufzuschlagen.
Nach und nach trudelten immer mehr Leute ein, dann wurde nachgedacht. Das erste Problem war das Netz. Es gab nämlich keins und die an der Mittellinie formierte Bierdosenkollektion sah zwar lecker aus, machte beim Aufprallen des Balles aber dermaßen ulkige Geräusche, daß die Spieler jedesmal vor Lachen zusammenbrachen. Also wurde ein richtiges Netz besorgt, der Ghettoblaster mit einer ADICTS-Kassette bestückt und dann endlich konnte es losgehen. Wir spielten im klassischen K.O.-System; der Gewinner kam weiter, der Verlierer war der Arsch. Im Schnitt dauerte so eine Partie keine zehn Minuten, mit Ausnahme der Begegnungen, die Koschek austrug. Diese Spiele gestalteten sich ungefähr so: Zunächst wurde der Gegner erst einmal ausgiebig beschimpft ("Du Rotze!"), dann, wenn man hoffte, das Spiel könne endlich beginnen, weil auch ein Koschek einmal Luftholen muß, demonstrierte der gewiefte Taktiker seine enormen Oraltechniken wie "Ball in den Mund nehmen und flutschig lecken".
Mir taten Koscheks Gegner aufrichtig leid. Holten sie den Punkt, wandte Koschek seinen Kontrahenten den Rücken zu, zog die Hose runter und streckte ihnen seinen nackten Arsch entgegen, während seine inzwischen völlig kaputte Stimme ohne Unterlaß Schimpfworte und Pöbeleien
aus der triefigsten Kloake ausspuckte. Man mußte schon Masochist sein, wenn man unter diesen Umständen gewinnen wollte.
Auf der anderen Seite nutzte Verlieren auch nicht viel, denn immer, wenn Koschek einen Punkt machte, holte er seinen Lachs raus, lief wild durch den Raum und schüttelte den Fisch. So verging Spiel um Spiel, bis Koschek gegen Klint frühzeitig aus dem Turnier flog, wogegen ich, lassen Sie mich das erwähnen, immerhin zweiter wurde.
Leider kam es aufgrund von Koscheks Losglück nicht zur Partie Mann gegen Maus. Schade eigentlich, denn ich hätte den Angeber allzu gerne mit meiner Schildkröt-Pfanne von 1975 mal so richtig an die Wand gespielt.
Kurz vor sechs kamen noch Bernie Blitz und sein Walsumer Fanclub in den Keller gefallen, der mittlerweile Nordkurvenatmosphäre verbreitete: Überall lagen Bierdosen und Zigarettenkippen, der PVC glich einer schwammigen, braunen Pfütze, es stank nach Rauch, Bier und Männerschweiß.
Derartiges Szenario fanden auch die drei Damen vor, die wenig später mit Salatplatten und Broten bewaffnet in den Keller eindrangen und beim Atmen der Luft und dem Anblick der etwa dreißig bunten, vollgetankten und sich sportlich betätigenden Gestalten selten dumme Gesichter machten. Wie soll man auch kucken, wenn der Raum, den man für fünfzig Mark ab 18 Uhr gebucht hat belegt, betreten und besifft ist?
Als faire Verlierer verpißten wir uns dann auch artig und legten noch die weitere Marschroute für den Abend fest. Bei allem Respekt für Studentenkneipen, Trinkhallen im Nieselregen und Schaukelpferden auf Kinderspielplätzen - das beste Freizeitangebot schien uns die Fabrik zu machen. Dort sollten VAMPYRE STATE BUILDING gastieren, laut Zeitung eine Gruft-Wave-Band, was der Fabrik ein schwarzgekleidetes Publikum und unserem Sportclub gute Unterhaltung versprach. Wir trennten uns gütlich und verabredeten uns für die zwanzigste Stunde des laufenden Chronometers bei den Autonomen. Abel und Irle versprachen, anläßlich dieses feierlichen Events ihre Jogginganzüge gleich anzubehalten und inmitten der hoffentlich zahlreich erscheinenden Gruftikern ein paar geschmackvolle Farbtupfer zu setzen. Ich ging mit Swen noch ´ne Pizza essen, um bei einem guten Glas Bier die Garderobe für den Abend zu besprechen. Zwischendurch rief Mona an und fragte, ob wir zufällig Nägel hätten. Sie habe da ein paar alte Fußleisten entdeckt und wolle sich jetzt daraus ein Kreuz bauen. Das fanden wir geschmacklos. Stattdessen ließen wir uns von der Dame in Sachen Kleiderordnung beraten, schließlich verstehen Frauen von Klamotten ja mehr als manch anderes Geschlecht. Was dazu führte, daß wir ziemlich gut aussahen. Mona hatte mir also ein grünes, selbstgenähtes Kleid verpaßt, das so eng war, daß sich meine Wampe unter dem fröhlich karierten Stoff deutlich abzeichnete und ich kaum Luft bekam. Um nicht wie der letzte Trottel dazustehen, ließ ich den Reißverschluß bis unter dem Bauchnabel offen.
Auch Herr Bock hatte eine gute Wahl getroffen, was sein Outfit betraf. Zunächst einmal pellte sich der pummelige, kleine Mann in eine enge, helle Jeans, die nach Miami Vice roch, bedeckte seinen Oberkörper mit einem dunkelgrauen Unterhemd der Marke supersexy und ging nach dieser Grundierung vollends in die Offensive. Als man schon dachte, es geht nicht besser, fischte er aus seinem Kleiderschrank zielsicher das orangefarbene Rex Gildo-Gedächtnishemd heraus, zog es an und steckte in dessen rechte, überdimensionale Brusttasche eine Dose Bac-Deospray. Dann setzte er sich eine Kappe auf, auf der Erich Lehmann, Glasreinigungsdienst stand. Mona trug wie immer grün, rot und blond durcheinander. Aus gegebenem Anlaß hatte sie sogar ihre Tigerjacke wieder ausgebuddelt, die genau nach den Tigerjacken aussah, die dreißig Jahre in einem Vorstadtpuff von Omsk abhängen müssen.
Alles in allem waren wir jetzt bereit für Saturday Night Fever. Da fiel es nicht weiter schwer, einen auf total gaga zu machen. Wir taten einfach so, als würden wir zum eingeweihten Kreis derer gehören, die immer wissen, wo die TOTEN HOSEN im Rahmen ihrer Incognito-Konzerte auftreten. Heute Abend jedenfalls, soviel stand fest, würden sie in der Fabrik gastieren, war das nicht wundervoll?
Wir betraten den Laden und fingen gleich damit an, uns wie die Neandertaler aufzuführen. Einen Großteil unserer Luft verbrauchten wir dafür, permanent "eisgekühlter Bommerlunder und belegtes Brot mit Oi" zu grölen, gelegentlich unterbrochen von inbrünstig geschmetterten Hosen! Hosen!-Bölkfanfaren. Alle, die das mit ansehen mußten, waren sichtlich irritiert, daß so viele Leute in der Lage sind, geschlossen zum falschen Konzert rennen. Nachdem wir mit den übrigen Tischtennis-Cracks ein herzliches Wiedersehen gefeiert hatten, mußten wir leider feststellen, daß sich unser Vergnügen angesichts des erschienenen Publikums leicht zu trüben drohte. Es waren tatsächlich nur etwa acht bis zehn Tote anwesend, sodaß wir die absolute Mehrheit bildeten, worauf sich die Band sicherlich schon freute. Das ließ uns keck werden. Abel gab wildfremden, dicklichen Grabestanten Ratschläge ("Ilse, Ilse, keiner willse"), während Kuwe versuchte, mit rhythmisch kredenzten Joy Division!-Stadiongesängen echtes Rockpalast-Flair in die autonomen Mauern zu zaubern. Es war ein wirklich schöner Kindergeburtstag, und hätten wir Säcke zum Hüpfen, Eier zum Laufen und Töpfe zum Schlagen, hätten wir das auch noch gemacht.
Die Zeit verging und es kam niemand mehr, der uns einen Schnuller in den Mund steckte, Deuwel noch mal! Dafür gönnte sich Koschek eine weitere Zigarre, die Jungs tranken Bier und Kuwe genehmigte sich eine Frage an den etwa 45-jährigen Barkeeper.
"Entschuldigung, wie geht nochmal der Anfang von Blowin´ In The Wind?"
Offenbar war Kuwe der Meinung, der Onkel würde das wissen, aber Kuwe meint viel und der Mann wußte nichts.
Zwischendurch sangen wir alle zusammen "wir wollen sterben, sterben, sterben" und machten dazu eine Polonaise von hier bis Wuppertal.
Dann bestieg die Vorgruppe die Bühne. Hardrock aus Coesfeld. Da hatten wir nicht gerade drauf gewartet. Wir mußten uns damit abfinden, eine weitere Stunde unseres Lebens sinnlos zu verplempern. Als dann endlich der Top-Act kam, dauerte es keine fünf Minuten, bis wir begriffen, daß wir über die vermeintlichen Erdbestattungsrocker keinen Kübel Dreck schütten können, da sie einfach viel zu gut waren. Mit ihrer Intensität hätten VAMPYRE STATE BUILDING jede Punkrock-Band aus dem Saal gefegt. Sie bedienten sich ausgiebig am großen Rock´n´Roll-Fundus ab 1955 aufwärts, wühlten in einem Haufen Klischees, ohne auch nur im Ansatz klischeehaft zu wirken und garnierten das klassische Gebräu mit einer spieltechnischen Raffinesse und songdienlichen Dynamik, wie ich sie vorher bei kaum einer anderen deutschen Band gehört habe. Damit war der Abend gelaufen. Sie können sich vorstellen, wie mein Herz vor Freude Samba tanzte, oder sagen wir besser: Pogo, als ich eines Tages zum ersten mal die CD dieser Band hörte. Ich hätte mir denken können, daß die Platte keinen einzigen Ausfall hat, keinen einzigen Moment, der auch nur im Ansatz nach Verlegenheit riecht. Nein, die Band hat alles richtig gemacht und auf Emotion gesetzt. "A Night At The Vampyre A Go Go" ist stilvoll, im guten Sinne traditionell, atmosphärisch und hat mit einer Coverversion von "Bette Davis´ Eyes" nur einen ihrer zahlreichen Höhepunkte. Besonders eindrucksvoll geriet der Sound, also das, woran Independent-Produktionen ohne großes Budget in der Regel scheitern. Aufwändige Produktionen versinken oft in Sterilität, schlechte scheppern saftlos vor sich hin, ein schmaler Grad für ein schönes Gewitter. Hier aber klingen alle vierzehn Songs so, wie sie zu klingen haben, nämlich nach sorgsam poliertem Alteisen und teuerstem Edelschrott, wenn Sie verstehen, was ich meine. Diese wunderbare Platte und das coole Verhalten der Band damals ließ mir gar keine andere Wahl, als mich in VAMPYRE STATE BUILDING zu verknallen. Jahre später machte ich ein Interview mit den Boys (das Girl war inzwischen gegangen). An den Duisburger Gig vor dem besoffenen Tischtennis-Lynchmob konnten sie sich noch gut erinnern.
"Du kommst in den Laden rein und siehst, daß die Leute Gruft-Rock auf die Plakate geschrieben haben. Dann erzählen die dir als erstes: Ja, wenn wir Punkrock auf die Plakate schreiben, ist der Laden immer supervoll. - Ja, und warum habt Ihr´s dann nicht gemacht? - Ja, öh, weiß nicht."
Dabei ist die Antwort so simpel: Hätte Punkrock draufgestanden, wären wir in unseren bunten Klamotten da gar nicht hingegangen und stattdessen vielleicht in einem Jazz-Club versumpft.
Oder glauben Sie im Ernst, einer von uns hätte sich getraut, in so einem Aufzug zu einem Punkkonzert zu gehen?